Probleme // Frau Inge

Als Kind hatte ich ein Kindermagazin abonniert. Mit Rätseln, Spielen und Reportagen. Auf eine der hinteren Seiten, ich glaube, der vorletzten, schrieb "Frau Inge".

Frau Inge half allen Kindern, die in Not waren. Leserinnen und Leser erzählten ihr auf dieser einen Seite, die nur Frau Inge und ihnen gehörte, von Schulsorgen, schlimmen Eltern und Einsamkeit. Immer hatte Frau Inge einen guten Rat parat.

Frau Inge hatte auf dem Foto kurze, rasant und zugleich praktisch geschnittene weißlichblonde Haare.

Sie sah aus wie ganz viele Frauen in den 1980er-Jahren aussahen. Bestimmt trug sie auch bequeme Kleidung, weite, wallende Hosen. Immer, wenn das Magazin kam, blätterte ich zuerst auf die Seite von Frau Inge. Es beruhigte mich, sie zu sehen und dass sie immer gleich aussah.

Einmal wurden mir zwei Probleme drängend. Da war ich neun oder zehn. Ich holte mir Briefpapier und schrieb einen Brief an Frau Inge. Die Postadresse war unten angegeben.

Dann wartete ich auf eine Antwort. Die Probleme waren immer noch da. 

Jeden Morgen rannte ich zum Briefkasten.

Aber da war kein Brief von Frau Inge.

Es war einige Monate später. Die Probleme hatten sich noch nicht erledigt. Da war ein Brief im Briefkasten. Meine Adresse war gedruckt darauf.

Frau Inge schrieb eine halbe Seite mit der Schreibmaschine. Sie schrieb, dass sie meinen Brief erhalten hätte und sagte ungefähr, dass es ihr leidtue, dass ich diese Probleme hätte.

Leider könne sie mir nicht helfen dabei.

Sie fragte, ob ich jemanden hätte in meiner Umgebung, dem ich mich anvertrauen könnte? Einen Lehrer zum Beispiel?

Ich stellte mir alle meine Lehrer vor und überlegte.

Dann wünschte sie mir viel Glück!

"Deine Inge" stand darunter.

Was soll ich sagen?

Ich war enttäuscht, dass mein Brief nicht abgedruckt wurde.

Enttäuscht, weil Frau Inge mir nicht helfen konnte.

Aber immerhin hatte ich so etwas wie ein Autogramm, und ich habe den Brief von Frau Inge bis heute aufgehoben, wo ich ihn unter einem Stapel anderer Dinge fand, wo er verloren gegangen war, wie die Probleme, die ich damals hatte, in einem Stapel anderer Probleme vermutlich nicht mehr besonders hervorgestochen waren, irgendwann.

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