Panoptikum fiktiver Lyriker

Jan-Peter Wenz

geb. 1958. Wenz gilt als Melancholiker. "Die Kleine des Lebens einfangen", bekennt er bescheiden sein lyrisches Programm. Ein Zitat aus dem Gedicht ist der Titel des Bandes, aus dem es stammt: "Wackelige Träume zählend" (1988).


Selbstauskunft

Ich, Kind zweier Eltern mit dicken Brillen,
Büchern verhaftet,
schwächlich in der Konstitution:
Kind und Eltern

Einmal in der Fabrik gearbeitet
Ferienjob, Hitze, Schweiß der Kittel,
Sonst: beste Ausbildung, lange studiert, 
Kaffeeflecken auf den Seminararbeiten,
Diese anfertigend: nachts
tags das Gefühl von Unwirklichkeit
In Gedanken verstrickt die Straßen
Entlang
Zu Feiern an andern Orten, sich im Schreiben
Versucht, wie viele
Arbeiten, Büros von früh bis spät
Abends,
Manchmal
Wackelige Träume zählend wie
Zu klein geratende Münzen,
Die immer, wie nach einem Wurf,
Auf der Spitze stehen:
Nach beiden Seiten könnten sie
Fallen.

York Schaumeister

York Schaumeister verquickt meisterhaft das Alte mit dem Neuen, beherrscht das Repertoire der klassischen Moderne ebenso wie die Adaption der Beatliteratur, "flott" hat man seine Gedichte genannt (Art Beat, in: Kasslerbratenschnur, Bd.2, 2012). 

Dass einige Kritiker fanden, sie klängen nicht, hat Schaumeister erbost, der, durchaus einigen "Granden" der deutschen Literatur ähnlich, sich öffentlich durchaus auch mal im Ton vergreift: 

"Es soll klingen, sagt man mir.

Kling Klong Kling Klong, reicht das?"

Schaumeister ist 1969 geboren, in einer Blütezeit der Bundesrepublik, in einer satten, sorglosen Epoche. Die Rebellion der Studenten hat er nicht mehr miterlebt, seine Zeit waren die "Eighties" -- Pop und Oberfläche sind seine Bezugsgrößen. "Ich war ein großkotziger Popper", sagt er selbst. 

"So what?"

Ein Kracht ist er nicht geworden, kein Stuckrad-Barre. Zum großen Durchbruch hats nicht gereicht, "Kleinvieh", sagt Schaumeister, in Schwaben geboren, mit einem Augenzwinkern, "macht auch Mist". 

Immerhin drei Lyrikbände sind von ihm inzwischen erschienen, 2017 der Band "Now he is", in dem es ihm auch darum ging, Geschlechtergrenzen beim lyrischen ich zu überwinden. So spricht in dem "Poem" eine Frauenstimme, "könnte meine Freundin sein", sagt Schaumeister, "klar, bin manchmal ein A. ...". Dann schmunzelt er, sein Lächeln ist wirklich nice.

Now he is

Jetzt kommt er // now he is

Coming // Home? Kommt er 

Schon // Knackst es im Schloss, im 

Hirn // Wie prüf ich mein inneres

Flattern // und weh mir wo nehm ich

Eine klirrende Fahne woher ein 

Band auf der Stirn // der Liebe // für 

ihn bind ich den Kranz aus Hoffnung 

Und Blut und Tanz // Und er: denkt sich 

an mir

Ganz.


Hans-Werner Haslheide

Hans-Werner Haslheide (geb. 1941) durchlief seine stürmische, romantische Phase wie wir alle in der Jugend. Ewig ein Außenseiter wegen seiner Unbeherrschtheit, seiner gleichzeitigen tiefen Schüchternheit, aufgewachsen in den verklemmten 1950ern entdeckte er die U.S-amerikanischen Dichter der Zeit, deren Sprache er als gewaltsamen Aufbruch aus dem engen Käfig deutscher Tradition begriff, die auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Bestand hatte. Die progressiven Jungen, die der "Gruppe 47" folgten waren Haslheide, wie er in einem Interview von 1988 bemerkte (in: "halbwachs", Bd. 3), zu "dark, zu politisch, zu traurig. Ich wollte das bloße Ich, und sollte es grotesk sein", so der große, schwere und stets vollbärtige Künstler, der sich mit seiner Unmittelbarkeit und Präsenz sofort ins Gedächtnis brennt.

Die Konzentration auf sich selbst, die ausdrückliche Feier des Ich, das war früh Haslheides Programm -- lange vor den 1970ern und der neuen Subjektivität.

Die Kleinschreibung, die er als Habitus früh wählte und beibehielt, versteht er als eine Hommage an George und seinen Kreis, den er, der heimlich Konservative, durchaus -- ästhetisch-künstlerisch -- schätzte, auch wenn vom Gestelzten, Gespreizten dieser Dichtung in Haslheides "Spontan-Gewörter" nichts zu finden ist.

Schlicht soll sie sein, die Sprache, unmittelbar, "emotional". Eine oberflächlich wirkende, dabei tiefe, weil an der Körperlichkeit und dem Wesenskern ansetzende Auseinandersetzung mit dem eigenen Narzissmus -- diese wiederkehrenden Motive finden sich bereits in seinem Gedicht von 1961 "man wollte", das die Enttäuschung über den ausbleibenden Erfolg -- die ausbleibende Liebe? -- zum Ausdruck bringt, hier im Originalmanuskript. 








Caspar F. Sterzelhain

Caspar F. Sterzelhain, geboren 2009, ist ein ganz gegenwärtiger Dichter.

Auf einzigartige Weise belebt er die politische Dichtung, vermengt sie mit der Hefe der Lyrikgeschichte -- in seinem Werk finden sich zahlreiche Anspielungen auf Expressionismus und Dadaismus. Und die Saat, das Backwerk geht auf!

Noch ist Sterzelhain, der noch bei seiner Mutter im ausgebauten Dachgeschoss wohnt und "irgendwas mit Computer" studiert -- heute gilt man noch als jung -- kein ganz Großer. Aber er ist Gast auf zahlreichen Lyrikfestivals, ein Rockstar am Himmel der neuen Poesie. Das folgende Gedicht ist aus seinem lyrischen Erstling "Roseannenheim" (unveröffentlicht, erscheint Ende 2021):

Deadline Europa

Deadline Europa nach Großem Krieg Eins und Zwei Haben wir morsche Knochen erzittert Und Jetzt der Schönste Platz Wo gibt aufn Auf der Erde Wenn nicht Welt Mit einer Deadline An der Grenze Und im Herz Europas und der Welt Zieht ein Todes Habicht Seine wachsame Bahn Wo zustößt peng Puff Inne Herze rein Von Mensch Und trägt unsre Augen Wenn endlich genug Ist Deadline



Conny Edlinburg -- die Staubtrockenheit der Existenz
Conny Edlinburg, geboren 1952 bei Kiel, ist "nicht Fisch, nicht Fleisch, wie man sagt". Sagt sie. Geboren im Norden, "mit dem halben Fuß auf dem Fischkutter, die andere im Krabbensud", war sie eher ein burschikoses Mädchen. Ihre Verletzlichkeit entdeckte sie spät, nach einem langen Berufsleben auf dem Amt, mehreren gescheiterten Ehen, dem Verlust ihrer beiden Wellensittiche. "Da bin ich nochmal an meine Verletzlichkeit ran".
Sie studierte mit über 50 noch Germanistik und Latein in Tübingen, ging in Kunstausstellungen, ließ das "Leben durch mich wehen", wie sie sagt.
Ihre praktische Frisur und das raue Auftreten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter ihrer Schale ein ganz zarter -- lyrischer -- Kern steckt, wie sie auch in ihrem neuesten von insgesamt mittlerweile fünf Bänden "Der Durchbruch des lateinischen Worts" beweist. Es geht ihr um die Sprache. Um das Hier und Jetzt. Um die "Transzendenz des Worts", wie sie sagt. Mittlerweile lebt sie abwechselnd in Hamburg, Tübingen und Tokio und hat lange Reisen in die USA unternommen, wo auch das folgende Gedicht entstand:

Conditio
Erschöpfung, blass,
Staubtrocken wie heißer
Sand in Arizona. Oder:
Verwundbar wie Worte
Die niedersacken im
Artilleriefeuer der
Zeit.

Leander Mittenmair

Leander Mittenmair, geboren 1987 in der Pfalz, ist eine Erscheinung. Schmal, groß, immer rauchend, auch in Cafés, wo es eigentlich nicht gestattet ist (man lässt ihn gewähren im "Burgi" und im "Pilz", wo er Stammgast ist) gleicht er dem Bild des armen jungen Poeten, wie wir ihn uns seit Jahrhunderten träumen.  Seine Doktorarbeit der Linguistik schloss er mit "summa cum laude" ab, eine Stelle an der Universität schlug er aus, "um zu dichten, aufzusaugen, im Sturm zu gehen, Sie verstehen?" Wir verstehen, wir nicken. 

Mittenmair hat drei Kinder aus zwei Beziehungen und lebt derzeit wieder allein, "in einer Mansarde, wo der Wind durchpfeift, Sie verstehen", er lacht sein verhaltenes Lächeln hinter einem dieser feinen Schnurrbärte, die heute in manchen Kreisen wieder "in" sind. Seine Gedichte sind einfach, dabei raffiniertes Sprachspiel, und sie kommen an -- besonders bei einer jugendlichen Boheme in den Metropolen.

Zwei Bände umfasst sein schmales Oeuvre -- "Mathilde, La Peuvre" (2015) und "Die Sau, die mein Haus umfasst hält" (2019), aus seinem Erstling das folgende Gedicht:


Ohne Not

Und ohne Not

Schlägst du den 

Frühling aus der Wand

Scherben, grün und

Blau

Zerfallen noch zu

Staub mit meinem

Bloßen Fuß gehe ich

Und halte das

Warum noch

Wochen 

Fest

In der 

Rohen Hand


Erin Schlung und die Reise ins Innere

Erin Schlung, geboren 1961 in Mainz, gilt heute als rehabilitiert. Ihre Lyrik der "absoluten Innerlichkeit", die äußere Landschaften in innere projiziert, galt lange als larmoyant und kunstlos, sogar in den 1980ern.
Schlung musste viel Ablehnung einstecken. Mit einem lyrischen Prosatext -- Schlingenfiguren im Sturm" -- trat sie beim Bachmannpreis in Klagenfurt auf, aber selbst Ilma Rakusa, die Schlung eingeladen hatte, bekannte traurig: "Die Verse klingen nicht nach".
Der Durchbruch gelang erst 2014 mit dem Gedichtband "Die Sumpfdotterblumen, die Sumpfdotterblumen, sie sind traurig".
Hieraus auch das folgende kleine Gedicht:

Wenn er traurig wurde
Wenn er traurig wurde
Dann mit einem Lächeln
Einer Wasserblume gleich
Die Halt sucht im
Schlamm

Inge Korz -- vom zerbrechlichen Individuum

Inge Korz, geboren 1949 in Mooshain, war sich lange ihrer Fähigkeiten nicht bewusst. "Wohlbehütetes Bürgertöchterchen", schrieb sie später über sich, "kannte nur Lockenwickler, Nagellack und Meereswellen im Urlaub, die Rufe des Vaters". Dieser Satz stammt aus ihrem Erstling "Ich lasse die Saat los" von 1965. In Folge politisierte sie sich rasch, galt in den 1970ern als Geheimtipp, wurde in eine Reihe neben Hans Magnus Enzensberger gestellt. Von der "Lyrik, die Sozialismus IST" ist sie nie losgekommen, wenn sie auch etwas in Vergessenheit geriet mit den Jahren. Sie lebte als Lehrerin in Braunschweig, reiste mit Stipendien um die Welt und war zuletzt auch in einer Fabrik am Band tätig, "zurück zu den Wurzeln und Flügeln, die ich nie hatte", sagt sie. Ihre Lyrik verbindet Marxismus mit der neuen Innerlichkeit der 70er-Jahre.

Das Gedicht stammt aus ihrem dritten Gedichtband, ebenfalls Suhrkamp, "Vergessene Lieben der Proletarier" (1972)
Warum mit zerbrechlichen Individuen weder
Staat noch Revolution zu machen ist
Ich sendete mein Glas aus
Aus meinem Glashaus
Du sagtest küss mich ich
Bin ein Pflasterstein
Und darunter ist der Strand
Und ich grub und grub
Und fand dich: und du:
Warst aus Sand.

Wolfgang "Wolfi" Bäcker und der Sound der Straße

Geboren 1957 in Bottrop, "herausgefahren aus dem Muttertier mit einem Schrei". Aufgewachsen im Ruhrgebiet, als Jugendlicher Kohlekumpel wie sein Vater. Ein Treffen mit Charles Bukowski anlässlich einer Lesung in Heidelberg 1978 inspirierte ihn "forever".
Reise durch die USA als Student 1981, hier der Essay "Auf Reagan ballern mit deinem Intellekt, bumm bumm", der in kleinen Szene-Magazinen vervielfältigt wurde. Abbruch des Studiums. Arbeit als Seemann, Barkeeper, Leichenwagenfahrer, schließlich der Durchbruch mit "Hinter der Latrine um zehn Uhr zwei" (Suhrkamp, 1983)

Heute ein Gedicht aus dem neuesten Band "Alte Katze lässt das Flausen nicht" (2011)

Cherie, Cherie
Wir rollen Hosen auf
Und Pläne
Zu dumm für die Welt
Zu klein für Hass und Zicken
Gezeugt im Takt dieser und
Anderer Umstände
Zwischen Klappern und Plastikblumen
Mit einem Schweif aus Angst
Und jeder Plan zerfällt
In verwüstete Küchen und
Trips zu Tankstellen nach zwölf
Ich kriege dich nur am Fuß
Zu fassen und sage
Cherie, Cherie
Und lob deine Brüste

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