Publikationen
Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.
Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.
Ingeborg Bachmann: Böhmen liegt am Meer
In den Gläsern spiegelt sich das Meer. Frauen in
Bikinis, Männer in Badehosen blicken zu den Wellen, die im Bild unsichtbar,
oder, sage ich zu Nina, vielleicht gar nicht da sind, das Blau öffnet ihre
Augen zu etwas hin, lässt ihre Wangen glühen – Reisefieber. Am Ende der Straße ist Nina in einem Lichtkegel stehen
geblieben, unter ihr die Stadt in der Mittagshitze, reibt sie sich ihre Schulter:
rötliche Striemen auf brauner Haut. Plattenbauten, lange helle Stäbe, unten am
Hang, wir müssen jetzt ganz nahe sein.
Vor Wochen hat David seine Adresse auf einen Zettel geschrieben. Nina und er hatten sich den ganzen Abend über geküsst, innig und verloren, wie es nur Betrunkene können. Später waren sie verschwunden, und ich blieb zurück, die Hand gegen das kalte Glas einer Bierflasche mit sich auflösendem Etikett gepresst, bis meine Adern hervortraten, während Ninas Puls unter meiner Haut zu pochen schien.
Die Durchsagen am Bahnhof verstanden wir nicht, aber
ich erkannte die Melodie, es wechseln die
Zeiten. Wir zogen Kaffee aus einem alten Automaten, es schmeckte dünn und
süß. Unter der Kuppel legten wir den Kopf in den Nacken, rote Lampen – wie im
Bauch eines riesigen Raumschiffes. Gleißendes Licht draußen auf der
Reiterstatue. Zwischen Buden mit Wurst und Spielcasinos ein altes Kino,
atemlose Drehtüren von Kleiderläden, Flirren aus den Schächten.
Er begrüßt uns mit einem Kuss auf die Wange. David
arbeitet an einer Sprachschule. Er imitiert das Englisch seiner Schüler, great job, great fun, poorly paid. Teacher, too: Nina lacht, summer vacation: feine Schweißperlen auf
ihrer Stirn, ein durchsichtiger Film, wie oft lagen wir nach dem Feiern so
verschwitzt im großen Bett über der Bar, die Musik als Vibrieren in den Zehen, und
wir sprachen darüber, was wir tun würden, später – in einer Welt, die wir uns offen
vorstellten, gewölbt und weit.
Meine Reisetasche: ein müdes, zusammensinkendes
Tier. Die Fensterscheibe des winzigen Zimmers reflektiert schon das Innere, Matratze.
Steinboden. Sommerhut. Bücherbord aus Ziegelsteinen, in dem wenige Bücher verloren
hängen: Shakespeare. Vom Hof ein Schlagen, ein Tocken, als riefe jemand um
Hilfe. Im Kopf ein Rotieren, Kreisen, als ginge die Fahrt dort weiter.
Unter meinen nackten Füßen der Grund ist beige.
Schwarze Karos. Springt um: Schachbrettmusterspiele habe ich schon als Kind
gespielt, sage ich zu David, der Eis zerstößt, sie ordnen die Welt immer neu.
Nina neben David, so eng, dass ihre Schatten über der Anrichte ineinander
übergehen. Ninas Reisetasche steht noch in der Küche. Blue Curaçao? Nina dreht
sich zu mir um. Er hat gefragt, was du machst, sagt sie, zieht eine Augenbraue
in die Höhe. I am a vagabound, sage ich. David lacht. Reicht mir ein Glas, Absinth
– changes the world, too.
Im Hof ist der Boden noch warm vom Tag. Dort
hinten, sagt David, wohne ein Mädchen, über das es eine Fernsehdokumentation
gibt. Sie übe für eine Karriere als Profifußballerin. Man könne das Klong
hören, mit dem der Ball an den Pfosten prallt. Nina steht auf und nimmt Davids
Hand. Ihr Gesicht ist kleiner als sonst, als hätte es sich unter den hohen
Temperaturen zusammengezogen.
„Kommst du mit?“ fragt Nina.
„Ich warte auf das Mädchen.“
Den Rücken an die Wand gepresst, kommen mir selbst
die Steine glitschig vor, vielleicht ist es mein Schweiß, was passiert, wenn
der Mörtel sich löste unter der Hitze, ob das Haus, die alte Villa, in sich
zusammensinken würde, ich stelle sie mir weich vor, wie meine Reisetasche, ich
sitze noch da, die beiden sind längst im dunklen Inneren des Hauses, das sich
nicht rührt.
Als David am nächsten Tag zur Arbeit geht, fahren Nina
und ich an den See. Ich wage nicht zu tauchen im grünlichen Wasser, ich liege
auf dem Rücken und lasse mich treiben. Der Himmel ist milchfarben. Kinder
bespritzen sich mit Wasser. Ihr Lachen und ihre Rufe klingen wie aus weiter
Ferne. Am Ufer werden Würstchen gegrillt. Eine alte Frau, die Eintrittskarten
ausgibt, kleine bunte Zettel, sitzt auf einem gestreiften Klappstuhl, beinahe
regungslos. Am Grill stehen Männer, deren Bäuche weit hinausragen über die
Badehosen. Von Ferne das Klackern von Maschinen. Der See liegt in einem
Industriegebiet.
Nina liegt am Ufer, seitlich, die Knie hochgezogen,
still. Wie sie sich auszieht: langsam, sicher, als entstünde die Welt um sie
herum in diesem Augenblick neu. Ich nehme das Buch in die Hand, das sandig ist,
ein Reiseführer, und Nina blinzelt, sieht sich um, „lass uns gehen“.
David zeigt mir die Stadt: die Sonnenuhr, das
Denkmal für den unglücklichen Dichter, der auf den Schultern eines Mannes ohne
Gesicht sitzt. Eine Niemandswelt am Flussufer – T-Shirts mit Witzen auf
englisch und billige Uhren. Hinter den glänzenden Waben des Nationaltheaters versteckt
er sich. Die Sonne strahlt sein Gesicht halb an, halb verdeckt sie es, Schatten
unter seinen Augen, er lächelt in meine Richtung, wir laufen in das Gewirr der
Gassen der Altstadt, trinken Schokolade im Café, das nur Einheimische besuchen:
Innen hängt ein Küstenbild mit Booten. „Die Leute hier haben Sehnsucht nach dem
Meer“, sagt er.
„Lass mal“, sagt Nina.
Von draußen das Klong,
Aufprallen eines Balls an einen Pfosten.
Als schwebe man. Als würde man auf Wasser fahren: Wir
sitzen in der Straßenbahn im Morgennebel, den Job hat David vermittelt – Bücher
verladen. Nina zog eine Augenbraue in die Höhe, doch sie kam mit.
Die Arbeiter verstehen nicht. Ein Junge lacht, wir wollen
was? Innen ist es staubig: überall eingeschweißte Bücher. Etwas wie „Land ohne Küste“, „träumen“ und
„Stadt“. Ich fahre über das straff gezogene Plastik und frage mich, ob die
Bücher darunter genügend Luft bekommen, wie sieht eine Stadt aus, die
träumt, ob sie die Augen zuhat, ich werde David fragen.. Ein schmächtiger Mann mit
Zopf lächelt mich an, wenn ich ihm die Bücher aus dem Laster reiche. Er bringt mir
Worte bei: ich, gut. Ein Wort, das wie „Stuhl“ klingt, meint aber „Tisch“. Dass der
Stadtteil Troja heißt, er lacht, ja,
die Stadt der Antike, das kann sein, sie wurde zerstört sage ich, vielleicht
gibt es auch hier einen verborgenen Hafen. Ich sehne mich nach Wind. Schon jetzt,
um die Mittagszeit, ist es heiß, Umgrenzungen lösen sich auf: der Schuppen, die
vormals klare Linie zum Himmel, ich muss mich an der Hauswand abstützen,
Ameisen formen Straßen entlang der Betonnaht, einige fliegen. Als ich die
nächste Runde Bücher schiebe, die Sackkarre stolpert und die Sonne zielt direkt
auf mich, sehe ich Nina auf dem Boden sitzen.
„Ich gehe.“
„Aber wir sind noch nicht fertig.“
Nina steht auf und sieht mich ernst an.
„Wenn du glaubst, dass dich das weiterbringt.“
Ich sehe sie die Straße entlang laufen, ihr Haar
klebt noch am Kopf, ihre Schritte klacken auf dem breiigen dunklen Asphalt.
Dobře. Du wirst
heimisch. David hat den Tisch gedeckt – Probe bestanden, sagt er, auf dem
Küchenbord schimmert es blau. Wo ist Nina? Ninas Tasche steht wieder in der
Küche. Von ihr keine Spur. Die Nerven verloren bei der Arbeit, will ich zu
David sagen, mein ganzer Körper ist von einer Schicht Staub überzogen, alles pulsiert,
verschwitzt, jetzt, nach der Anstrengung des Tages leichter werdend, David
zieht mich zu sich, ich habe klebrige Finger, Ocean Spray.
Ich erwache vom Pochen des Regens auf dem Fenster: Von
hier aus erahnt man das Schimmern der Dächer der Stadt hinter den Regenfäden. David
liegt neben mir, ich drehe mich hin zu ihm: ein Flackern unter seinen Lidern.
In der Küche scheint es zu rumoren. Das Schachbrett zeigt Schwarz, beige
Quadrate, Blitze aus Kälte unter meinen Füßen. Die Tasche ist weg.
Die Leute, sagt er, hätten sich so viel erhofft: Europa. Ich streiche
ihm das Haar aus dem Gesicht, es kommt mir vor, als sei es gewachsen seit
unserer Ankunft, ich denke an Ninas kräftige Haare, „ich mache mir Sorgen“,
sage ich, aber David schüttelt den Kopf. Ich solle ihn nicht verlassen. Never. „Ja“, sage ich, in den Hof
hinein, gegen das Klock, und mir fällt ein, dass das Wort, das hier „ja“ meint,
wie „nein“ auf französisch klingt.
Sie stellt ihre Tasche ohne Schwung in die Küche
und setzt sich zu uns an den Tisch. Wo sie gewesen ist, frage ich. Nina sitzt da,
die Beine zusammengepresst. Über den Tisch zeigt sie Fotos, Miniaturen auf der
Digitalkamera: der Fluss, Bäume, grüne Tischdecken: dunkles Leuchten von
Beeren.
Als sie aufsteht, trete ich dicht hinter sie. Ich
spüre den Schwung ihres Rückens, feste Zartheit, ich bin versucht, sie von
hinten zu umfassen, etwas zu sagen wie: Wir beide können hier zuhause sein, sie
lehnt sich einen Moment an mich, kleines Beben, ein Schluchzen vielleicht, dann
abebbend: „Ich gehe schlafen.“ Als Nina gegangen ist, steht David auf und
streicht mir das Haar aus meiner gefurchten Stirn. Er hat mir gesagt, dass er
von Anfang an mich im Blick hatte. Ja,
fällt mir ein, und dann, dass das Wort hier ich
bedeutet.
Morgens ist es still, die Luft klar nach dem Regen,
und Sonnenlicht streift die Mauern. Die Gegend, in der David wohnt, liegt in
Hanglange, man erreicht sie mit der U-Bahn, mit der Trambahn, mit dem Bus, und
dann läuft man ein Stück an einem Schlösschen vorbei, bis die Straßen schäbiger
werden. Wenn man den Atem anhält, wenn man die Augen zukneift, kann man sich
das Blau des Himmels mit seinen schwimmenden Wolken als Wasser vorstellen.
Ich bin dem Geräusch gefolgt, dem Klong-Klong, ich wollte das Mädchen
sehen, das kein Zuhause hat, was wollte ich mit ihr, wie hätte ich ihr helfen
können, und als ich nach oben sah, war da ein loses Regenrohr, das, wenn der
Wind ging, an das Dach eines Hauses schlug. Es musste einmal ein Laden gewesen
sein, vielleicht in Zeiten des Booms, den fiebrigen Tagen nach der Revolution,
von denen Jan uns erzählte, als die Welt aus Türen bestand, A World of Open Doors: Nun waren die
Scheiben zersplittert. Leere Regale. Davids Gesicht Stunden zuvor, beim
Abschied: Wie ich auf seine Frage, warum ich nicht noch bliebe, wohin ich denn
wolle, ich sei doch, sagte er und berührte mein Haar, eine Vagabundin, wie ich
sagte: Travel Nerves.
So spricht der Farmer zu uns, und immer ist das Mädchen an seiner Seite. Orangenfarmer, so nennt mein Bruder den in fließende Gewänder mit Schlangemuster gekleideten Mann, dessen wettergegerbtes Gesicht seine Geschichten zu beglaubigen scheint. Klar stehen sie vor uns, wie die Adern an seinen Armen, zeichnen sich ab in der Dunkelheit der Gänge und noch vor den helleren Fenstern, wo es immer nach Zimt riecht, nach Ferne und nach dem Traum vom Orangenhain, den wir alle teilen.
Auszug aus: Birgit Hofmann: Orangenfarmer, in: Von Aprikosen und Angsthasen. Ausgewählte Stipendiatentexte, hrsg. von Astrid Braun für den Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, Bretten 2016, S. 91-100.
Nicht mehr leuchten
wenn er die großen Packungen anschleppte, und wie er vorrechnete, was er gespart hatte dabei, und er hätte nicht gedacht, bestimmt nicht, dass das einmal über ihn gesprüht werden muss. Muss es aber. Es soll ja nicht stinken hier im Haus. Es soll an mir insbesondere auch kein Gestank kleben bleiben, denn ich muss demnächst los.
Sie sind in Urlaub, habe ich Oma gesagt, die Apfelkuchen brachte, und sie:
Seit wann die Eltern denn in den Urlaub fahren würden. Wo sie doch immer
kein Geld hätten. Fast hätte ich da laut gelacht, denn auf so was kommst du
ja nicht, Oma. Als sie weg war, mit ihrem misstrauischen Schauen, die Oma,
habe ich das Auto geputzt. Mit dem bin ich zum Studium gefahren, und ich
hatte eine Aktentasche in braunem Leder dabei, die aussah wie von einem
Großvater geerbt. Früh bin ich los, weil die Universität in der Stadt lag, ein
altes Gebäude aus schwerem Stein, davor die Philosophen, und wie sie dich
anschauten mit steinernem, strengen Blick, und wie ich hereinkam, als erster,
immer als erster, da saß noch keiner auf seinem Platz, so früh war es,
vielleicht noch neblig, und dann die Studenten, die kamen, die kniffen die
Augen zusammen vor Müdigkeit, wie junge Hunde.
Auszug aus: Birgit Hofmann: Nicht mehr leuchten, in: entwürfe. Zeitschrift für Literatur, 68, 4/2011)
Barbiere
Auszug aus: Birgit Hofmann: Barbiere, in: Stiftung Preußische Seehandlung u. a. (Hrsg.): Open Mike. Die 24 Besten des siebten Berliner Literaturwettbewerbs, München 2001.
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