Florett

In diesem Sommer geht die Mutter weg. 

Im Haus bleibt es kühl. Von Ferne hört man die Straße. 

Abends liegen sie im Ehebett, unter dem Miriam Hefte versteckt, die Jost nicht lesen soll. Darin steht wie man küsst. 

Jost sitzt im Zimmer und unterstreicht Überschriften. Das Lineal ist in der Mitte zerbrochen und hat gezackte Ränder: Die Linien werden schief. Er wartet auf das Gebimmel des Eiswagens.

In diesem Sommer kommt der Eismann nicht.

Jost und Miriam essen Wassereis: Florett mit Kirschgeschmack. 

Es ist sehr rot und fest, ein kleiner Stab auf dem Stiel aus Holz. Florett ist das billigste Eis, das man in der Tierparkkneipe kaufen kann. Der Tierpark liegt neben Josts Schule. Zweimal in der Woche holt Miriam Jost dort ab. 

Im Tierpark gibt es nur wenige Tiere: Wellensittiche in großen Käfigen, die gelangweilt schauen, ein paar Ponys, die im Kreis geführt werden, und viele Ziegen, die weit hinter den Zäunen in der Sonne stehen. Nur zwei Tage in der Woche sind Eistage.

Jost ist in den Pausen oft allein. Einmal war er der gute Roboter aus der Serie, die sie spielen. Aber er hat sich zu unecht bewegt. Beim nächsten Mal durfte Jost nicht mehr der Roboter sein. Er musste im Wald ganz still an einem Baum stehen. Einer sah, dass Josts Hose von innen nass wurde, und zog sie mit einem Ruck herunter. Jost hatte Rotz im Mund und er heulte und es rann herab an seinen Beinen. Erst als es aufhörte, drehten sie ihm ihre Rücken zu und zogen ab.

Die Mutter schickt eine Kassette mit Geschichten. 

Jost und Miriam hören sie so oft an, dass das Band brüchig wird und sich im Recorder verfängt. 

Miriam hat sich die Haare schwarz gefärbt und trägt ein Stirnband. Es ist schon Hochsommer und Miriams Jeans so eng, dass sie kaum atmen kann. Du siehst aus wie eine Sängerin, sagt Jost. 

Will ich auch, sagt Miriam. 

Jost findet Miriam schöner als alle Sängerinnen, die er kennt. Abends kommen Miriams Freunde und sitzen breitbeinig in den Sesseln im Wohnzimmer. Sie schenken Jost Wein ein, und Jost trinkt und raucht auch und hustet, bis Miriam ihn ins Bett schickt. 

Miriams Hälfte bleibt jetzt nachtsüber länger leer. Jost liegt im Bett, schwer und nass. 

Im Industriegebiet riecht es nach Sonnenblumen. 

Hinter einer Kiesgrube mit schweren Baggern beginnt ein Sonnenblumenfeld, in dessen Mitte eine Graslichtung liegt. Dorthin darf Jost nicht mitgehen. Miriam zeichnet mit einem Stock eine Grenze in die Erde. Jost muss hinter der Linie stehen bleiben und warten. Nur von Weitem hört er Lachen und Musik. 

Einmal wartet Jost nicht. Er biegt die riesigen Stiele zur Seite. Einer schnalzt zurück in sein Gesicht. Dort sammeln sich Tränen, aber er wird nicht heulen! Durch die Sonnenblumen sieht er Miriam an einem Baumstamm lehnen. Ein Junge neben ihr dreht das Radio lauter. Ein anderer gibt Miriam eine Flasche Bier. Jost sieht sie hastig trinken: ihr Haar an ihrem Mund, an der Flasche, im Gesicht. 

Jost wird warm. Miriam beugt sich zu dem Jungen und streicht ihm über den Kopf. 

Wie jemand, der ausgelacht wird, bahnt er sich einen Rückweg durch die Sonnenblumen. 

Floretteis, sagt Miriam, muss man langsam lutschen. 

Es fühlt sich kühl und glitschig an und im Mund ein bisschen wie ein Daumen. Zuerst wird die Zunge rot davon. Nach und nach wird der ganze Mund ein Kirschmund, und der Tag ein Kirscheistag. 

Miriam und Jost laufen wieder zum Tierpark. Auf der Terrasse der Tierparkkneipe sitzen auf der Terrasse der Kneipe Männer vor Biergläsern. An ihren Schnauzbärten klebt Bierschweiß. Miriam schaut die Männer nicht an, als sie an ihnen vorbeigeht. Sie kramt in ihrem Geldbeutel und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Zwei Floretteis, sagt sie laut. 

Während der Wirt zur Eisbox läuft, fischt einer der Männer eine Wespe mit einer Gabel aus dem Glas und hält sie in die Höhe. Die Insektenbeine zappeln. Der Mann grinst den anderen zu und zerquetscht die Wespe mit der Gabel auf dem Tisch. Miriam dreht sich zu dem Mann um. Was soll das, fragt sie. Das mit der Wespe. Jost läuft die Treppe der Terrasse schnell herunter. Er sieht, dass der Mann  Miriam an den Po fasst. Miriam stößt die Hand weg. Als sie neben Jost zum Stehen kommt, atmet sie gepresst. Sie hält zwei Florett-Eis als Beute in der Hand. 

Im Wald kauert sie sich an einen Baum. Sie schlingt ihr Florett mit zwei Bissen herunter und hackt den Eisstiel in die Erde. Ihre Zähne glänzen in Kirsch.

Die Mutter kommt an einem sehr heißen Tag. 

Sie hat keine Geschenke dabei und trägt eine kurze Hose, die in die Oberschenkel schneidet. Die Plastiktüten in ihrer Hand sehen aus, als würden sie gleich reißen, und das Haus ist auf einmal so voll. 

Jost, Miriam und die Mutter spielen abends Menschärgeredichnicht. Miriams grünes Männchen schmeißt das blaue der Mutter raus, das blaue der Mutter das grüne von Miriam. Der Würfel klackert vom Tisch und bleibt verschwunden. 

Du bringst unseren Kochplan durcheinander, sagt Miriam am nächsten Tag zur Mutter, die vom Einkaufen volle Körbe mitbringt. Na und, sagt die und blinzelt abwesend, während sie Töpfe und Pfannen aus den Schränken holt. 

Abends steht Miriam in der Tür des Wohnzimmers als Jost auf dem Schoß der Mutter sitzt. Sie hält eine Schallplatte in der Hand. Als die Musik beginnt, schubst die Mutter Jost von ihrem Schoß und springt auf. Sie fängt an zu tanzen. Miriam dreht lauter und ihr Gesicht wird ganz hell. Die Mutter und Miriam hüpfen durch den Raum. Die Mutter zieht ihr Tshirt aus und malt die Worte mit den Armen in der Luft nach. Als das letzte Lied zu Ende ist, fallen beide keuchend auf das Sofa.

Die Mutter bleibt zwei Wochen. 

An einem Tag kommt sie mit in die Schule. Miriam sieht dünn aus, als sie neben Jost und der Mutter läuft. Jost zeigt ihnen die Bilder an den Wänden. Eines ist von ihm, Georg, der Drachentöter, dessen Blut und Schmerz sehr echt aussehen. Er hat eine lange Lanze in der Hand, von der das Blut dick und rot tropft. 

Als sie vor die Schule treten, überrascht sie ein Nieselregen. Die Tropfen weben ihnen weich um die Gesichter. 

Später wird das Gesicht der Mutter leer. Sie ordnet Blätter und zerreißt sie. Das Geräusch der zerreißenden Blätter kreuzt noch Josts Schlaf. 

Zum Abschied umarmt sie keinen. 

Bald beginnen die Sommerferien. Nach den Ferien wird Jost auf Miriams Schule gehen. Dort haben Miriam und ihre Freunde Plakate mit Atombomben aufgehängt. Vielleicht wird auch Jost ein Plakat aufhängen dürfen. 

Nachts drängt er sich dicht an Miriam. Ihr Bauch ist warm wie ein ganzer Sommer. 

Der letzte Schultag ist ein Kirscheistag. 

Nach dem Läutern wirft einer der Jungen Josts Schulranzen aus dem Fenster. 

Die Hitze drückt sich auf Josts Nacken, als er die Filzstifte einsammelt. Manche der Kinder, die an ihm vorbei nach Hause gehen, treten auf die Stifte, dass es knirscht. Nur der rote Filzstift ist noch ganz geblieben. 

Der Schulhof ist aus Beton. Dahinter beginnt Wüstensand, auf dem Klettergerüste stehen. Jost lehnt sich an einen Holzbarren und schaut herum. Sehr klein sieht der Schulhof auf einmal aus, wie eine winzige offene Schachtel. 

Miriam ist nirgends. Josts Cordhose kratzt an den Beinen. Er wartet. Seine Digitaluhr zeigt dreiundzwanzig Minuten nach Eins. Miriam kommt nicht. 

Jost steigt auf sein Fahrrad und fährt so schnell er kann. An der Straße sitzen Jungen mit Spritzpistolen und überschwemmen die Ameisenhaufen Das Haus liegt müde im Schatten. Innen ist es kühl und man hört von Ferne die Straße zum Industriegebiet. Jost ruft nach Miriam. Aber er hört nur seine eigene Stimme.

Im Industriegebiet riecht es nach Schwefel. Erst nahe am Sonnenblumenfeld kann man den Sommer noch riechen.  Jost geht auf die Blumen zu. Er biegt die Stauden zurück, ohne dass sie ihn treffen können. Auf dem Rasenplatz liegen leere Bierflaschen und Plastikschnipsel. Vor dem Baum, an dem Miriam gelehnt hat, sieht Jost eine Kassette, deren Band heraushängt in langen Wellen. Er hebt die Kassette auf. Die Schrift auf der Kassette ist verwischt. Vorsichtig legt Jost sie zurück vor den Baum.

Nachts spürt Jost die Grube, die die beiden Hälften des Ehebetts trennt. 

Sie hinterlässt Striemen am Rücken.

Er legt sich auf den äußersten Rand seiner Seite. 

Durch das geöffnete Fenster dringt Nachtluft. Draußen kann man noch immer in dünnen Kleidern herumlaufen. Lange noch zuckt es hinter Josts Augenlidern.

Zwei Tage später kommt Miriam. 

Ihr Haar fließt ihr blond und weich über die Schultern. Ein Junge ist mitgekommen. Es ist der Radiojunge aus der Graslichtung. Miriam und der Radiojunge halten sich an den Händen. 

Es tut mir leid, sagt Miriam. Sie wäre verliebt. 

Ich habe dir die verbotenen Hefte mitgebracht, sagt sie, und zwei Floretteis. Wir brauchen viel Eis, sagt sie zu dem Jungen, der wie im Traum lächelt. 

Es ist nämlich, sagt sie, ein sehr langer Sommer. 


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