Passfoto

Liegt es am einen Auge, das von jeher leicht herabzusinken droht, immer eine gewisse Sanftheit, Verwunderung, ja, leise Melancholie auf mein Gesicht zaubert, ein Zug der Physiognomie, der auf guten Fotos ein gewisses Vertrauen ausstrahlt?

 Eins ist gewiss: Immer wieder suche ich, wenn ich Passfotos benötige, diesen Laden auf, obwohl ich es schon weiß. Ich weiß schon, dass das Produkt der kleinen Session zwischen mir und dem müden, weißbärtigen Fotografen, grotesk ist, unzumutbar, in keinerlei Hinsicht wird am Ende ein auch nur mediokres Passfoto den Weg in meine Hände finden. Und es ist noch immer der gleiche Mann, dessen Laden ich heute, in der größten Hitze aufsuchte. 

Im Innern war es kühl. 

Es ist die gleiche Lockung, etwa wie bei Frauen, die immer an die falschen Männer geraten: Du bist älter, stehst woanders, siehst anders aus, es geht dir heute gut, du kannst damit umgehen, dass das Licht dich blass, fahl und krank oder wechselweise verschwitzt oder tieftraurig aussehen lässt, wirst darüber strahlen, auch dem Geschmack des Fotografen wirst du einmal, heute! standhalten, der immer sofort begeistert ist, in seiner ruhigen Art sagt: „Das hier ist es!“ 

Und du siehst dich auf dem Bildschirm, mit Bestürzung, traust du dich nicht zu sagen, du siehst schlimm aus, der Kragen der viel zu eintönigen Bluse verrutscht, ein Lid hängt herab, du siehst zehn Jahre älter aus, mit der Zuversicht einer frustrierten Angestellten eines tristen Amts, als müsse man dich zur Arbeit prügeln, als hätte die Kapitalismuskritik früher Jahre sich auf Zuruf auf deinem Gesicht eingefunden und breitgemacht: I`d prefer not to

Feierabendverkehr draußen, das Klingeln der Tram, und es war vor Jahren schon, in den ersten frühen Zeiten in dieser Stadt, dieses Geschäft, damals solltest du noch den Kopf verrenken, weswegen zu all der Melancholie noch ein stärkerer Zug des Gequältseins getreten war, und wenigstens doch diesmal nicht, suchst du dich zu beruhigen, hast doch kein Geld, brauchst doch das Foto, und vorsichtig sagst du: Könnten wir es noch einmal …?

Kann doch sein, er darbt. Kann doch sein, das Geschäft läuft schlecht, der einzige Sohn, der den Laden übernehmen sollte, hat sich davongemacht, oder ist das Opfer eines Überfalls einer betrunkenen Jugendbande geworden, die ihn ins Koma geprügelt haben, jedes Jungengesicht erinnert den Fotografen an das zerschundene Gesicht seines Sohnes, kann doch sein, seine große Liebe hat ihn verlassen, und in dir sieht er sie, braucht das grelle Licht, braucht den kleinen Triumph, deine Verstörung, Verzagtheit, um sich über den Tag zu retten, bevor er in die betäubenden Arme einer Flasche Jack Daniels fällt.

„Das ist es! Meinen Sie auch?“

„Ja … ich also … ja, naja. 

Oder doch noch ein anderes Format?“

Während du dich wieder in Position bringst auf diesem Hocker, der dem Klavierschemel im Schlafzimmer deiner intellektuellen Großmutter ähnelt, auf dem sitzend du sie nicht in Erinnerung hast, der Schemel zum Klavier, auf dem mit einem Finger „spannenlanger Hansel“ spieltest und Angst hattest, wie die „nudeldicke Deern“ auszusehen, während du nach links nach rechts lachst, die Wände kommen auf dich zu, es rinnt dein günstiges Makeup und die Haare fallen aber, siehst du, ganz perfekt, und schon baut sich das Bild vor dir auf, erscheint eine Person, die erneut verstört und müde aussieht, und ein Leuchten geht über das Fotografengesicht, „bei Ihnen klappt das sofort!“ – und du rechnest zusammen wie teuer das alles ist, und denkst, vielleicht ist er reich, oder er ist Bestseller-Autor und kommt nur her, um die Menschen zu studieren (stellst dir vor, wie immer Schriftsteller in Filmen mit leiernden Stimmen sagen, sie fänden es wichtig „zu beobachten“ (schwörst dir, du wirst nie so etwas … -- aber wer weiß, wie du dann aussiehst, dich bewegst, ausgeleuchtet wirst, wenn ein Kameramann eines Fernsehsenders dich erst einmal vor dem Scheinwerfer hat)), jedenfalls, das wars, du hast deinen Blazer über die Schultern geschwungen wie die Menschen auf den Fotos des Herkunftdorfs, stolz ausgestellt in den Vitrinen der Fotoläden, keckes Armfrei-Shirt, darüber keck der Blazer, lässig an einem Finger, und dann, gar nicht mal schlecht, oft so im Schwung fotografiert, dynamisch, von hinten sich umwendend, eben noch dieser günstige Augenblick, das Leben! 

Das schöne Dasein! Verweile! – 

Schon aber: die endlose Straße zur Bushaltestelle, und das Licht auf der Eisdiele, die früher nur drei Sorten hatte, diese italienischen Einwanderer, die aus ihrem Gestrandetsein das Beste machten, „darfs noch was sein, Signora?“, denen du nie das Trinkgeld verweigert hättest, die aus einer unbewussten Geschäftsstrategie so über-italienisch waren, in ihr eigentlich schon perfektes Deutsch eine falsche Brüchigkeit und viele italienische Wörter legten, als fielen ihnen die anderen nicht ein. 

Diese Leute mit Bausparvertrag und Kindern und Herbstfesten, bei denen man sich, leicht angeschickert, so schön treiben lassen kann, wie schwimmen, vorbei an den Buden mit dem Meerschweinchenrennen, dem Popcorn, das es nur hier gibt, denn ein Kino existiert nicht, und jetzt hat der Fotograf die Fotos ausgestanzt und in winzige helle Tütchen verpackt, die Faszination des Sehens hinter einer Scheibe, hinter etwas Durchsichtigem ist noch etwas, und es könnte schön sein, er legt sie auf die Theke, und du denkst an seinen übel zugerichteten Sohn, und so schlimm siehst du nicht aus: Dein Gesicht ist heil. 

Und du kannst seiner Frage „noch eine CD dazu?“ nichts mehr entgegensetzen, der arme Mann, du kaufst für fünf Öckis extra auch diese, taumelst heraus und rennst fast in die Statue vor einem griechischen Restaurant, die dich mahnend an wichtigere Fragen erinnert.

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