Erdbeerquark

Seit Tagen sehnen wir uns nach Erdbeerquark. 

Ihm gelten unsere zärtlichsten Worte. 

Stell dir das süße Zerplatzen der Erdbeeren vor, sagte Tim, als ich ihn zuletzt auf dem Flur traf. Aber seit das Wasser da ist, sind wir träge geworden. Wir gehen nicht mehr einkaufen und leben von den Mitbringseln der Besucher, die mit eingezogenen Beinen um den Tisch am Flur sitzen und Karten spielen. Auch der Wellensittich, dessen Käfig in der Küche mit jedem Luftzug baumelt, gibt kaum einen Laut von sich. Seine Krallen umfassen angestrengter als sonst die Stange. 

Als es begann mit dem Wasser, hatten Tim und ich uns zum ersten Mal in der Abstellkammer getroffen. Dort stach uns der Elektronikschrott in die Arme.

Das alles kommt mir lange her vor. Ich kremple meine Hose hoch und steige in das kühle Wasser. Auf dem Weg zur Toilette werfe ich einen heimlichen Blick auf die Besucher und das Essen, das sie uns hinterlassen werden. Lässig eingerollter Schinken, eine Tüte Bonbons, und ein Baguette, das schon begonnen hat, sich in sich selbst zurückzuziehen. Wieder haben sie unsere Bitten um Quark und Erdbeeren ignoriert. Im Flur ist es hell und heiß. Die Frauen wischen sich Schweißperlen aus der Stirn. Ist Tim nicht zuhause? fragt eine, und ich sehe, wie ihr die Gier durch den Hals auf die Lippen steigt. Natürlich, sage ich. 

In der Toilette trete ich mit den Füßen fest ins Wasser. Es hinterlässt Spritzer auf den Zeitungsseiten, die wir an die Wand gepinnt haben: Stars, Körper und Begebenheiten aus aller Welt. Ich bin die einzige, die die Toilette noch aufsucht. 

Zu Anfang war es Julia, die am eifrigsten nach Ursachen für das Wasser suchte, das von Tag zu Tag seinen Pegel erhöht. Stundenlang lag sie mit abgenutzten Hemden unter der Spüle, klopfte Rohre ab, vermaß Entfernungen und verkündete schließlich, alle Rohre und Boiler seien intakt.

Tim fragte die Besucher, ob der Fluss, zu dessen Fuß unser Haus liegt, über die Ufer getreten sei. Der Gast mit dem stumpfsinnigen Hund sagte, er hätte seit Jahren keine Nachrichten mehr gehört. 

Wir beschlossen, dem Wasser mit Humor zu begegnen. 

Freibad ganz umsonst, sagte Julia und lachte patent. 

Aufräumen macht jetzt viel mehr Sinn, sagte Tim mit einem Augenzwinkern. Wir setzten Quietscheentchen auf das Wasser und wedelten es mit Schöpflöffeln auf, so dass die Entchen von einem Zimmer ins andere schwammen. 

Nach zwei Tagen stand das Wasser kniehoch. Es war durchzogen von Schlieren aus Staub und aufgelösten Blättern. Es blieb ohne Ton, nur nachts bildete ich mir ein, es hin und her schwappen zu hören. 

Es tockte an die Tür meines Zimmers. Als ich öffnete, schwang eine Flasche Hals und Bauch herein. Ich fischte einen zusammengefalteten Zettel heraus, auf dem stand: Wir sollten uns nicht mehr sehen. Ich zog mir Schuhe an und zertrat die Flasche unter dem Wasser. 

Mittlerweile senden wir alle uns Nachrichten auf unseren Mobiltelefonen. Es sind muntere Mitteilungen, deren Knappheit es nicht anstrengend macht, sie zu lesen. 

Meistens handeln sie von Erdbeerquark. 

In schönen Schüsseln, den dickbäuchigen, gelben, schreibe ich. 

So duftend die Erdbeeren wie dein Parfum, schreibt Tim. 

Nur von Julia habe ich länger nichts mehr gehört. Ich vermute, ihr Handy ist in einem nachlässigen Augenblick ihren Händen entglitten und ins Wasser gefallen.

Ich erwache vom Wasser. Es benetzt meine Haut, es grabbelt darauf herum wie ein schüchterner Liebhaber. Na sowas, sage ich, als verstünde das Nasse Worte. 

Ich denke augenblicklich an Erdbeerquark, ich denke ihn in genüsslichen Einzelheiten: Erdbeerfelder, auf die die Sonne niedersticht.

Wie es rot und voll aus den Erdbeeren tropft, wenn sie zerkleinert werden, wie sie – das Fleisch von Mündern – eingerührt werden in den bleichfarbenen Quark, der sich locker quirlen lässt, nicht ohne einen hauchzarten Widerstand zu bieten, und wie das fette Erdbeerrot schließlich das Quarkweiß überrumpelt, überzieht, ganz verschlingt.

Das Wasser stößt in meine Träume, es wird aufdringlicher und überspült in flachen Wellen mein Bett. Es saugt sich fest in den Überzügen und umschmeichelt meine Beine. Ich richte mich auf. 

Wehmütig denke ich an die Zeit, als das Wasser so niedrig stand, dass es an einigen Stellen noch in den Teppichboden sickerte. Damals war es klar und gab den Blick frei auf die zerschwommenen Gegenstände, die darunter schwebten wie Wasserleichen. Mittlerweile ist es dunkel und prall wie eine angeschwollene Ader, grob und fordernd. Zum ersten Mal bin ich wütend auf das Wasser. Wenn ich nur ein Hochbett besäße. Ich denke daran, Kissen und Decken aufeinander zu stapeln, um hoch genug zu liegen. Schließlich steige ich hinein ins Wasser, das kalt in die Beine sticht, das nach Moder riecht und nach dem Absterben alles Gewesenen. Meine Kleider werden schwer und kleben mir dicht auf der Haut. Das Wasser widersteht meinen Bewegungen, ich drücke es vor meiner Brust zur Seite, fast unmerklich habe ich begonnen zu schwimmen. 

Im Flur treiben die Stühle und das Telefon. Das Telefontischchen ist umgekippt und bewegt sich rhythmisch hin und her, eingekeilt zwischen Wand und Tisch. Die Besucher sitzen auf dem Tisch und drehen sich Zigaretten. Hola, wer kommt da, sagt einer in meine Richtung, und ein anderer scherzt: Ein kleiner Fisch! 

Ein Mann und eine Frau sitzen Arm in Arm. Die Frau grinst in meine Richtung und sagt: Wir sind ganz schön nützlich, wenn wir aufstehen, haut es den Tisch weg

Ich sage: Schon gut! und kämpfe mich vor bis zur Küche. 

Der Zwinger des Vogels ist geöffnet. Ich habe euch gebeten, das nicht zu tun! schreie ich in den Flur, es ist zu gefährlich!

Aber ich kann jetzt nicht darüber nachdenken, ich will schauen, ob es inzwischen Erdbeerquark gibt, sie haben es wieder und wieder versprochen. Das Wasser bildet an einigen Stellen Strudel. Nur mein Kopf ragt noch aus dem Fließen hervor, das Wasser ist mächtig in Bewegung geraten, fast bin ich stolz auf so viel Dynamik. Aus dem Flur höre ich das Poltern des Tisches und ein Aufklatschen von Körpern. Ich tauche zum Kühlschrank und rüttele an seiner Tür, ich bin mir auf einmal sicher, dass es dort schon seit Tagen Erdbeerquark gibt, ich spüre plötzlich in meinem Rücken eine Hand, die mich zurück reißt, und als ich durch das Wasser Tim sehe, der sich mit  aufgerissenen Augen ein kleines Stück vom großen Glück gegen mich ergattern will, schlage ich paddelnd in ihn hinein.

Sein Blut, eine feine Straße, tropft in das Wasser, das vom weißen Kühlschrank angestrahlt wird und dessen Tür sich öffnet. Blasen steigen aus unser beider Münder, als wir in seinen Schlundbauch starren, und entgegen kommen uns nur zwei schlappe Karotten, die sofort davon geschwemmt werden, und alles sonst ist leer. 

Als wir auftauchen, treibt zwischen uns der tote Wellensittich. Tim schaut mich durch das Blut hindurch an, ich schaue zurück: Wir wissen, dass es keinen Sinn hat, ihn zu beerdigen. Müde lächeln wir uns zu. Ich mache mich auf den Rückweg in mein Zimmer, und ich sehe Tim aus den Augenwinkeln in die Richtung seines Zimmers tauchen. 

Ich weiß, wir werden uns noch lange und unstillbar nach Erdbeerquark sehnen.

(co Birgit Hofmann; überarbeite Form 2022, im Original erhielt der Text einen Preis der Gruppe "literatenohr", 2001)

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