Fahrten
Es war, sage ich zu A., der tschechische Verkehrsminister, der einmal das Schicksal herausforderte: Er gab vor, ein italienischer Tourist zu sein und rief ein Taxi. Er rief, um genau zu sein, sieben Taxis und machte sieben Fahrten zu verschiedenen Orten, und jedesmal gab er vor, sich die Stadt ganz neu anzusehen und nie zuvor dort gewesen zu sein.
Wie konnte er denn, fragt A. nach einer Pause, den ich in Gedanken so abgekürzt habe, der aber Anatol heißen könnte und mit zweitem Namen etwas Konventionelleres wie Thomas oder Markus oder etwas leicht Ausgefalleneres wie Leander, unterbricht er mich, beugt sich dabei vor, zunächst, als höre er nicht richtig zu, übers Geländer, dann zu mir hin, vorgeben, ein Italiener zu sein, wo er doch sicherlich oder zumindest mutmaßlich gar kein Italienisch sprach?
Das wüsste ich nicht, sage ich, aber jedenfalls, fahre ich fort, während wir uns beide, beinahe gleichzeitig, zugleich, so synchron wie Schwimmerinnen bei einer Wasserstaffel, Wein nachschenken, ich rot, er weiß, in so einer Situation, Balkon, wackliges Tischchen zwischen uns, wie wir heute selten noch sind, in einer Situation, wo das Nachschenken immer gefährdet ist, weil wir nur noch selten Wein auf diese Weise trinken, weil die Gläser ungeeignet und immer an den Kanten von zu wenig Fläche stehen, wo sie sofort übern Rand fallen könnten, zerbrechen, sich eine rote Flut ausbreiten, unter den Füßen, alles verklebt werden, die Gastgeber freundlich und gequält schauen, wie es nur Gastgeber können, die Flaschen neben uns, jeweils, auf dem Boden, der mit Kunstrasen bedeckt ist, was ja längst kein Trend mehr, auf Anatols Seite und auf meiner schon renoviert und erneuert, blank und kahl.
Jedenfalls wurde er fünfmal von sieben Fahrten, sage ich und zupfe mein Kleid etwas nach unten, denn Anatol und ich stehen ja nicht in so einer Beziehung, und an ausreichende Außenbeleuchtung haben die Gastgeberinnen ohnehin nicht gedacht, und zudem ist das nicht mehr der Modus, in dem wir uns bewegen, die Bahnen, in denen Dinge verlaufen, oder vielleicht, sage ich, waren es vier Fahrten, also, er wurde jedenfalls, wenn er vorgab, ein Tourist zu sein, der tschechische Verkehrsminister, betrogen, ihm wurde zu viel berechnet, unverschämt zu viel, er wurde mies behandelt, man machte sich lustig über ihn, glaubend, er könne es nicht verstehen, er war, sage ich, quasi Freiwild, ein Fremder, und wurde behandelt, trotz seines Touristenstatus, wie Fremde überall auf der Welt, mit Misstrauen und Übervorteilung, und niemand ahnte, dass er den tschechischen Verkehrsminister im Taxi fuhr.
Wir schweigen und blicken auf die Straße, wo die Autos, glänzend verpanzert, in ein Abendrot hineinfahren, unbestimmten Ziels für uns, für sich selbst aber jeder wissend, welche Aufgabe ihn erwartet zuhause, wo im Schrank die letzten Kartoffelchips verborgen sind, dem Blick des Mannes oder der Frau ausweichend, der Frau, die Kinder sind schon im Bett, aber unruhig, sie wälzen sich die halbe Nacht, liegen im großen Bett im kleinen Zimmer, dort, wo sich der Vorhang aufbauscht wie eine Gischt am Meer, an dem wir im letzten Sommer waren und dann nicht mehr, das Kind stößt einen leisen Schrei oder Ruf aus, es träumt etwas, vielleicht weiß es was, das du noch nicht weißt, weiß von einem Abschied, weiß, dass ihr bald zu zweit seid, auf Kisten, in einer anderen Wohnung im vierten Stock, mit Dachschrägen und Steigen, die mühsam zu erklimmen sind, aber immerhin in der Altstadt, das ist wichtig, die Begeisterung für alte Städte, weil das Neuere oft weniger schön ist und auch unheimlich, weil man über die Zukunft weniger weiß als über die Vergangenheit, wo du auf dem Pflaster immer deine eigenen Schritte hörst als seist du zweimal da, einmal in laut und einmal in leise.
Wir schauen auf die Autos und uns auf dem Balkon um, auf den wir geraten sind, gedrängt wurden, die Party uns hinwogte, eine Welle, die uns hierhergespült hat auf einen Inselbalkon, und dann waren wir auf einmal zu zweit hier und alle drin, und hier sind wir immer noch, sitzen auf zwei unbequemen Gartenstühlen auf einem winzigen Balkon mit luzidem Geländer, so als würden wir frei über dem Verkehr, über den Straßen schweben. Ein großer, schlanker, irgendwie vornehmer Mann ist A., wie ausgedacht von mir, in seiner Zurückhaltung, der Art sich zu bewegen, dem feinen Humor, den vertrauten Augen und seinem Blick auf mir.
Er lehnt an der Mauer, am Mauerwerk einer gewöhnlichen Drei-oder Vierzimmerwohnung, so genau konnte ich das nicht sehen, die im dritten oder vierten Stock eines Altbaus liegt, zu dem man eine breite, aber doch schon abgeschabte, abgeblätterte Treppe hinaufgeht. Lehnt da zurückgestreckt, als müsse er seinen Nacken abkühlen, oder spüren, dass es noch eine Begrenzung gebe in der wabernden Luft eines Sommerabends. Sein Glas hat er abgestellt, es steht auf dem Tischchen zwischen uns, das einen alten, angebrochenen Fuß hat, und zu uns dringen gedämpft die Stimmen der anderen Gäste, die jetzt vielleicht auch einander vorgestellt wurden. Auf diese etwas impertinente, augenzwinkernde Art, die besagt, dass sich diese zwei nun unterhalten müssen, sich verstehen, einander etwas zu sagen haben müssen oder sollen. Weil es die Gastgeber so empfinden, sie sich etwas beweisen wollen, dass sie den richtigen Riecher haben für Konstellationen, mögliche Verbindungen, auch wenn sie ein lesbisches Paar sind, das uns beide, Anatol und mich, mit dem Bogen einer freundlichen Vorstellung zueinandergespannt hat.
Vielleicht aber kennen wir uns schon länger, vielleicht aus einem früheren Leben oder wir haben uns einmal schon, und haben es sofort vergessen, zugelacht auf dem Sportplatz einer Schule. Auf dem Beton eines leeren Platzes, die Sonne verbrannte uns den Rücken. Oder wir hatten schon ein Leben gemeinsam, eine Chance, eine Möglichkeit. Verlegen haben wir zu sprechen begonnen, uns wie im dunklen Raum tastend auf sicheren Grund begeben: Kennst du den M., magst du auch Mangosalat oder Couscous mit Minze, oder isst du lieber das Hähnchen dort oder bist du – denn geduzt wird hier jeder sofort, auch wenn ich eine tiefe Sehnsucht habe, Sie zu Anatol zu sagen, es würde passen, weil er so gar nicht wie einer dieser Dumenschen in Kapuzenpullovern ist, die einem in dieser Stadt ständig begegnen, auch auf dieser Feier, die einen mit dem Fahrrad fast umfahren und sich nie entschuldigen, die Veränderung wollen, die Gesellschaft umpflügen, aber jeden Wandel im eigenen Leben mit Panik quittieren – ach ja, und unsere Kinder, die gehen ja oder gingen fast in die gleiche Grundschule! Leo ist aber jetzt auf dem Gymnasium, ach so, deine Anni auch, ja, sieh an, tatsächlich ist es das nach Schiller benannte mit den vielen guten AGs, dem Cabaretkurs, der Literaturklasse, den Astronomiestunden. Beide Kinder lieben die Sterne und den Himmel. Und wir uns nie begegnet! Oder doch? Du wartest manchmal am hinteren Ausgang und ich am vorderen, aber normalerweise gehen sie ja ohne uns ein und aus in der Schule und in unseren Leben, inzwischen.
Wir werden kaum noch gebraucht.
Nur zum Broteschmieren.
Bei gelegentlichem Liebeskummer.
Für Urlaube, die sie sich wünschen, aber eigentlich lieber mit ihren Freunden machen würden.
Ein Wunder: dass wir uns noch nicht hier begegnet sind, bei all den Wegen, die sich in diesem Stadtteil leicht kreuzen, womöglich umfahren wir immer mit dem Rad denselben Stand mit viel zu fettigen Asianudlen, die wir den Kindern aus Ermangelung an Alternativen, aus Kraftlosigkeit, aus eigener Gier nach Glutamat und salzigem Essen in einer länglichen Pappschachtel mitbringen.
Einmal habe ich gesehen, dass die immer freundliche Verkäuferin, keineswegs stammt sie aus Asien, aber ich habe nicht gewagt zu fragen, wo sie eigentlich herkommt, sie kommt von hier, muss ich annehmen bis ich anderes weiß, unter dem Tresen strickt.
Und ich habe einmal gesehen, dass sie ihrem Mann eine Ohrfeige gab als gerade keine Schlange war, kein Kunde, der Platz sah leer aus nach einem Regen, der Asphalt war glänzend, und man konnte den Laut hören, es klatschte und der Mann schrie sie an. Oder sie hat ein altes Handtuch ausgeschlagen, eins voller Fett, und das hat diesen Sound gemacht, der einen an Gefahr erinnerte, die wir sonst versucht haben zu verbannen aus unserem Leben, und ihr Mann schrie nur zufällig, denn ich habe es doch nicht genau gesehen, nur gehört, weiß aber noch das Geräusch, das klang wie ein Schlag, ein Schuss, und ich stellte mir vor, die Umgebung wäre verwandelt, plötzlich, würde Polizei aus der Hecke springen, oder Heckenschützen oder Scharfschützen vorm Dach, und alle Sicherheit, die wir uns einbilden wäre dahin wie es anderswo ist oder hier früher war, und ich habe einen kurzen Moment gezittert und die Augen zusammengekniffen und dich nicht gesehen, der du an der andern Ecke vielleicht mit dem Rad zum Stehen gekommen warst, dann habe ich die große Portion Nudeln mit Hähnchen und Kurkuma bestellt.
Und die Kinder erst eben auf dem Laufrad, fast schon in ein Auto reingerast oder das Auto in sie, und wie wir hinterherlaufen, müde und zugleich schnell, das Rad im Lauf stoppen, quietschende Reifen, wir haben eine Entschuldigung gemurmelt, der Fahrer hat geflucht in einer uns fremden Sprache, wir haben gesagt, Entschuldigung, Entschuldigung, und Anatol sagt, er entschuldige sich sogar mehr als ich, würde er vermuten, denn mehr als er könne man sich gar nicht entschuldigen, das sei ein Reflex, ein Automatismus, wohl aus seiner Kindheit mit einer äußerst manipulativen Mutter, er saß ja so lange mit ihr auf dem Sofa und schaute ihre Serien, die ihn nicht interessierten, Telenovelas, oder Horrorfilme, sie war gebrochen, diese Nichtmutter, sie fasste ihn immer am Arm und strich so darüber, und er stellte sich vor, sie sei ein Tier, das seine Beute noch einmal begutachte, bevor er sie verschlinge mit Haut und Haar, und bevor sie das tun konnte, habe er sich immer verabschiedet, ab ins Bett, ins Zimmer mit diesem Schreibgerät, einer Computervorstufe, so alt sei er, einem Hybrid aus Computer und Nichtcomputer, brennender Bildschirm, anziehend, Mücken herum wegen offenem Fenster, das Bett immer ungemacht, wie halt Jungs so sind, er sei auch immer in Schwarz herumgelaufen, und dann habe er in die Tasten gehauen wie der Begriff sage, mit dieser Vehemenz, wenn die Vehemenz einen Text hätte ergeben können, dann wäre das sicher ein viel grandioserer Text geworden als all seine realen Texten, allein aus Wut gemacht.
Wir haben uns umkreist, ohne es zu ahnen.
Von der Bartokstraße zum Melakweg, die Schule hinter Gestrüpp, diese roten Blüten, von denen ich immer nicht wusste, was sie sind, immer vorhatte, in ein Blumenbestimmungsbuch hereinzusehen, aber ich hatte nur ein Vogelbestimmungsbesuch, das mein Vater mitnahm, wenn er traurig und versteinert, die Füße bewegend wie ein Monolith, wie ein Riese aus Fels, der seinen Platz verlässt, weil ihn eine zufällige Fee für einige Stunden entzaubert hat, der mit diesem Buch, das jetzt ich habe nach seinem Tod, es ist in der Mitte herausgerissen aus der Fassung, ist fassungslos dieses Buch wie ich, er ging immer los, wie ein Kind, ein Fuß vor den andern, er konnte nur so gehen, es war ihm nicht anders möglich, weil er ja diese Versteinerung noch um sich hatte, diese Kruste aus Trauer, und ich bin einmal mitgegangen, wie er stundenlang im Gras lag, auf dem Rücken, bewegungslos, wie ein Toter treibend, wie einer auf dem Meer, der sich im Wasser hält durch das Liegen, durch eine bestimmte, fast unbewegliche Position, und ich sah mit ihm in den Himmel, zu den Bäumen hin, die vom Wind bewegt wurden, und es war einfach still.
Wir lagen da eine Unendlichkeit lang.
Ich wagte mich nicht zu bewegen.
Meine Beine wurden unruhig, quälend, wie von mir abgetrennt wollten sie rennen, springen, mit ihm, wollten lachen, obwohl Beine das gar nicht können, aber sie waren mutiger als der Rest von mir, nervöser, ehrlicher, ich trat ihm in die Seite, wie man prüft, ob ein Tier, das durch einen Schuss vom Himmel fiel, noch lebt.
Vögel sahen wir einmal nur, einen Schwarm, stolz und weit oben, das Buch war in der Hand des Vaters, halb im Gras, hinabgesunken, der aber so langsam die Seiten aufblätterte, und die Vögel waren so weit oben als seien sie in einer andern Welt als wir, und dann dachten wir, es sind einfach Zugvögel, die, dachte ich, etwas transportieren, den Sommer, sagte der Vater.
Vielleicht sei es verständlich, dass man den Taxifahrern etwas nachweisen wolle, sagt A. Man bemerkt, dass er nachgedacht hat über diesen Satz, er sagt ihn, ohne seine Freundlichkeit, seine Verbindlichkeit, die er ausströmt, die verbale Sicherheit, die er verkörpert, aufzugeben.
Sicherlich gebe es unter ihnen schwarze Schafe, wie man so sage, sagt er und schaut mich fast zum ersten Mal seit dem Beginn unserer Zwangsgemeinschaft direkt und prüfend an, und ich kann nicht feststellen, ob ich ihm gefalle. Wir sind in einem Alter, wo man das Gefallen nicht in den Schoß gelegt kriegt, jedem gefällt ein junger Mann, eine junge Frau, mit dieser Energie, den schwingenden, vollen Haaren, wem sollte das nicht gefallen. Man wird jahrelang angestarrt, durchbohrt von Blicken, Männer laufen einem hinterher, belästigen einen, es ist unangenehm, ein permanentes Rauschen, das einen umgibt, das man nicht abschütteln kann. Und dann wird man älter, nicht minder schön, nicht minder gut, aber nicht mehr so gefällig, einfach, und plötzlich ist es unmöglich, Blicke direkt zu deuten, sie auf Begehren oder Besitzwünsche zurückzuführen, eine Frau meines Alters löst das nicht mehr aus. Aber die Frage sei doch, ob die Dienstleistung des Fahrens, jemanden von hier an einen anderen Ort zu bringen, fast geräuschlos, schnell, bequem, ob dies nicht doch etwas sei, das man höher entlohnen müsse, dass man geringschätze, schlecht bezahle, sagt A.
Er selbst sei nämlich, sagt Anatol nach einer erneuten und diesmal noch längeren Pause, in der ich die Hälfte meines Glases in kurzen Schlucken kippe, es dann genau in die Mitte des Tischchens abstelle, das unten Blumenschlaufen hat, einmal Taxi gefahren.
Meine Geschichte, sage ich entschuldigend, war kleinlich, ich habe sie nicht einmal selbst erlebt, denn ich bin nicht ein tschechischer Verkehrsminister gewesen, habe nicht im Taxi gesessen oder es gefahren, sondern nur in einer Zeitung in meiner Zeit in Prag davon gelesen und mir von all den Nachrichten in meiner Zeit in Prag, den aufregenden politischen Umwälzungen, Demokratiekonsolidierungen, dem Aufstieg populistischer Bewegungen mir wenig gemerkt, aber genau diese Mitteilung in einer Spalte rechts oben memoriert.
Taxifahren gelte als letzte Ausflucht, sagt A. Zugleich als eine Art Vorhof der Hölle. Es sei nichts davon. Anatol ist aufgestanden so als wolle er das Gespräch demnächst beenden, fürchte ich auf einmal.
Und ich fürchte, ich habe ihn verärgert mit dieser Geschichte, fürchte, er könne reingehen, sich unter die anderen Partygäste mischen, sich unsichtbar machen für mich und mich damit unsichtbar machen für mich selbst, mich zusammenschmelzen lassen auf eine einsame Figur ohne Gegenüber. Fürchte, dass ich sowieso schon alleine auf dem Balkon sitze, so verlassen wie in den Tagen vor drei oder nun schon vier Jahren, als L. ging, der genau wie Anatol aussieht, identisch, an einem furchtbar schwülen Tag, der bis in die Nacht hineinreichte als wolle dieser Tag nie enden, weigere sich, zu Ende zu gehen. Wie Anni dastand, an den Stützbalken der Wohnung gedrückt, Stuck rieselte auf sie als sei sie eine Statue in einer alten verlassenen Villa, mit an den Rändern durchgeschwitztem Blumenkleid, sie sah ja aus wie ich, wenn mein Vater einen Schritt vor den andern tun konnte, oder wenn er ganz verschwand, und ich wollte sie in den Arm nehmen, trösten, aber ich musste, eingebunden in Abläufe, die ich selbst nicht bestimmte, auf die ich keinen Einfluss hatte, seinen Schreibtisch hinuntertragen, weil der sowieso für einen Umzug viel zu enge Kleinlaster nur vorübergehend gemietet war, seine Freunde warteten, hupten, sie mussten es zurückgeben, jeder musste mitmachen, und so lief L. vorne die Treppe hinunter und ich, ohne dass wirs abgesprochen hatten, hinten, und mein Ende des schweren alten Eichentischs, den er von seinem Großvater geerbt und in unsere Wohnung gebracht hatte, in der ich vorher mit meiner Wohngemeinschaft gewohnt und deren Zimmer ich nach und nach für uns erobert hatte, wir trugen den Tisch, ich schwitzte, und an einer Kurve auf der steilen Treppe ließ ich meinen Teil einfach los.
Das Tischende, das sich schwer fassen ließ, ohne Griff, ohne Widerhaken, glattpoliertes Holz, entglitt mir.
Ich weiß bis heute nicht, kann mich selbst nicht genügend erforschen, um zu wissen: War es Absicht oder war mir der Tisch, der Striemen in meine Hand drückte, zu schwer geworden, er fuhr hinab, mit einem lauten, heftigen Geräusch, L. sprang zur Seite und schrie etwas.
Und als ich zurückkehrte in die leere Wohnung war sie staubig und lichterfüllt.
Ein Zimmer war noch möbliert, und alle anderen waren beinahe leer.
Anni stand noch immer da und drückte ihren Rücken in den Stützbalken und hielt in der Hand noch einen alten Brustbeutel, den sie und ihr Vater immer zum Wandern mitgenommen hatten, den er getragen hatte, wo sie immer einen Glücksbringer und etwas Kleingeld hatte verstauen dürfen, und sie sagte: „Den hat Papa vergessen“. Aus allen Winkeln fiel das Licht auf sie zu, sie stand da aufrecht, ihr Gesicht angeleuchtet, klein, ernst, der Mund verschlossen und ich konnte nichts tun, konnte sie nicht umarmen, setzte mich auf den Boden, zitternd, den Schlag, den der Tisch getan hatte, im Ohr, wortlos.
Anatol geht auf und ab und raucht eine Zigarette, die er aus einer Tasche, die er umgehängt hatte, ohne dass ich es gesehen habe, sie ist unauffällig und grau, und ich habe nicht gesehen, was er sonst noch darin aufbewahrt. Er ist aufgeregt, er sieht mich nicht an und spricht mehr über das Balkongeländer hinweg wie zu einem unten wartenden Publikum, Demonstranten vielleicht, er sagt man stelle sich das so einfach vor, das Taxifahren. Taxifahren, wenn man nichts sonst erreicht habe, das sei das schlimmste Klischee, er finde, Taxifahrer leisteten viel. Dabei sei er nicht so einer der guten gewesen, der engagierten, der Taxifahrer mit Leib und Seele sozusagen, die noch nebenher alle Sorgen und Nöte der Menschen aufschnappten und sie besprächen, die Leute auf etwas Wichtiges hinweisen würden ohne dass diese es recht bemerkten, so wie es etwa in Filmen sei.
In Filmen sei so eine Fahrt immer ein life-changig-experiment. Das Offene fasziniere an der Situation, zwei begegneten sich ohne sich zu kenne, einer steige beim anderen ein, bezahle den anderen, müsse ihm rückhaltlos vertrauen, sein Leben anvertrauen. Aber umgekehrt vertraue auch der Fahrer oder die Fahrerin dem Fahrgast sein Leben an. Das alles für manchmal nur zehn, zwanzig oder dreißig Euro! So billig, günstig, das Vertrauen, das aus einem Zwang entstehe, einem Zusammengebundensein auf engstem Raum.
Allerdings sei nie jemand zu ihm ins Taxi gestiegen, der ihn ernsthaft bedroht hätte, das nicht, aber die vielen Sticheleien, Unverschämtheiten, die Gereiztheit von Menschen in Taxis, sie scharrten mit den Füßen, ließen das Fenster hoch und runter fahren, drückten ihre Schuhe so angestrengt in den Taxiboden als wären sie es, die das Gefährt steuerten, man dürfe das nicht romantisieren, und es sei schlussendlich doch nicht so viel Geld, und Touristen seien oft großspurig, sie nähmen ihre Heimatorte mit sich mit, die seien um sie herum, wie ein Kokon ohne Verpuppung, weswegen sie, auch wenn die Dinge draußen an ihnen endlich leibhaftig vorbeizögen, sie endlich sehen könnten, wovon sie immer gelesen hätten, dass sie diese gar nicht wahrnehmen würden. Natürlich zerstöre der Tourismus auch die Innenstädte, das könne jeder Gymnasiast heute so sagen, hinschreiben bei einem Deutschbesinnungsaufsatz, diese Diagnose sei ja allgemein, jeder wisse es, ein offenes Geheimnis, diese Gleichförmigkeit der immer gleichen Läden, man wisse heutzutage ja gar nicht mehr, wo man sich befände, auch diese Stadt hier sei völlig austauschbar, oder ob ich hier aus irgendeinem Grund leben würde. Doch könne man das nicht den Touristen selbst anlasten, sie wollten ja etwas sehen, seien ja neugierig im guten Sinne, die Aufklärung habe nur so funktioniert, und es stimme auch der Spruch nicht, dass Kant nie über Königsberg hinausgekommen sei, denn Königsberg sei zu Kants Zeit ein lebendiges kulturelles Zentrum gewesen, was man von unserer Stadt, wenn man sie so nennen dürfe, nicht behaupten könne oder man könne das doch nach allem wie das letzte Jahrhundert verlaufen sei von keiner einzigen Stadt hier mehr sagen, die Idee der Metropole sei tot, vergangen, wie die des Intellektuellen oder Schriftstellers, dies alles gebe es nur noch als vagen flüchtigen Abdruck, aber doch gegenwärtig genug, wie jemand, ein Mann, der eine Frau anfasst, seine Hand auf ihrem Kleid hinterlässt als Umriss.
Er sagt das und fasst im Vorbeigehen, von oben, vorsichtig an meinem Arm, der allerdings bloß ist, kleiderlos, schon dunkel von der Sonne, ich merke die Wärme seiner Hand, er lässt sie sinken.
Warum er dann Taxi gefahren sei, frage ich. Anatol steht wieder mir gegenüber an der Brüstung, die nicht sehr hoch ist. Man könnte, wenn man sich falsch beugte, vornüberstürzen, fallen. Ich wage es, auch aufzustehen. In meinem Kleid sehe ich doch gut aus, oder nicht, Anni sagte er, siehst ganz gut aus, Mama, das war so ziemlich das höchste Lob, was ich von ihr hörte, sie starrte dabei auf ihr Handy, das machte es noch authentischer, ich fühle mich leicht, über uns sind die Sterne, der Abend ist warm, ich lehne ans Geländer.
Lächelnd sieht A. mich an. Es tue ihm leid, er hätte sich in Rage geredet, das sei gar nicht seine Art. Er bietet mir eine Zigarette an, und ich frage, ob rauchen nicht völlig aus der Mode sei, und er sagt, ja, aber wir sind in einem Alter, wo wir uns das erlauben dürfen, und ich glaube, er hat es nett gemeint, und ich sage, dass wir so alt doch auch nicht seien. Alt genug für politische Ämter, Verantwortung, ja, aber nicht alt genug, um alt zu sein. Ob er sich nicht manchmal zu jung für alles fühle.
Das sei ein Problem, sagt Anatol, unsere Generation ist infantil, voller Sehnsucht nach einer Kindheit und Jugend, die man doch wenn man ehrlich sei, gar nicht gehabt habe. Und er auch, er nehme sich gar nicht davon aus. Taxifahren sei für ihn anstrengend gewesen, Knochenarbeit sage man dazu, er sei immer übermüdet gewesen, habe von Auffahrunfällen geträumt. Er hätte damals mit seiner Freundin in einer Mansarde gelebt, die immerzu staubig gewesen sei, Silberfische, Staub, auch Schimmel, man konnte machen, was man wollte, sagt er, er und Silvia seien immer beschäftigt gewesen damit, die Wohnung auf einen guten Stand, wie sie es genannt hätten, zu bringen, vermutlich sei die Beziehung auch daran zerbrochen: Am ständigen Auslegen von Silberfischfallen, am Schimmelentfernen, dieser Geruch von Chlor hätte immer in den Zimmer geschwebt, beißend und zugleich flüchtig, wie die Erinnerung an einen langen Tag im Schwimmbad. Das hätte ihnen das Gefühl gegeben, dass sie zur Probe wohnten, jemand sie testen wolle, um ihnen die Wohnung erst eigentlich zuzusprechen, wenn der letzte Schimmel entfernt, das letzte Silberfischchen weg sei. Aber Schimmel, sagte Anatol, käme immer wieder. Ja und natürlich hätte er zu wenig Geld gehabt damals, klar, vom Schreiben könne man nicht leben, und die Geschichten aus den Taxifahrten geben viel zu wenig her. Das hätte man in diesem oder jenem Film gesehen und Romane übers Taxifahren seien alle nicht wirklich gelungen. Ob ich in meinem Leben viel mit Taxis gefahren sei, fragt er.
Ja, es sei mir mondän vorgekommen etwa am Abend von einem Club zum anderen ein Taxi zu rufen und meine Freunde auf die Fahrt einzuladen, alle hätten sich kichernd, die Körperteile anordnend wie beim Tetris, damit wir reinpassten, auf der Rückbank zusammengequetscht, und es täte mir immer noch leid, wie wir die vielen oft gutmütigen, aber manchmal auch aggressiven Taxifahrer, viele migrantische Herkunft, genervt hätten mit unserem Gehabe, als seien wir eine Clique von prominenten Sprösslingen irgendwelcher Hollywoodeltern. Und damals sei ich mir ohnehin vorgekommen oder hätte mich fühlen wollen wie eine Königin, ich hätte sehr oft schwarze lange Kleider getragen und schwindelerregend hohe Schuhe, und ich hätte nachts noch geschrieben, meist wirre Texte über die Liebe. Obgleich ich gar nicht so viel Geld zur Verfügung gehabt hätte, hätte es doch vermocht, mir diese Fahrten gerade so oft zu leisten, um meine Freunde zu beeindrucken. Finanziert hätte ich mein Studium einerseits durch viele ehrliche, aber mies bezahlte Arbeiten, Dinge abtippen in dunklen, abgeteilten mit Sichtschutz versehenen Kabinen, im Callcenter Kunden befragen zu ihren politischen Ansichten, deren Daten, Adressen, Geburtstage, diese Angaben, auf die dein Leben zusammenschrumpft, dann aber eigentlich für die Werbung gedacht gewesen seien, durch einen Zufall, eine Freundin, die mich mitgeschleppt hätte, hätte ich meine Synchronstimme für schlechte Filme geliehen, wie immer ich da hineingeraten sei, und einmal, weil sich alle Dinge immer steigern müssten im Leben, meiner Erfahrung nach, es noch immer schlimmer kommt, hätte ich offen gestanden einige Monate mit einem älteren, wohlhabenden Freund verbracht, der nach Zigarren gerochen und mich ans Meer mitgenommen hätte, er hätte so gerochen, dass ich schon bei seinem Anblick passivgehustet hätte, und ich hätte mir ihn zu mögen eingeredet hätte, obwohl sich jede Nacht mit ihm angefühlt hätte wie das Sitten eines bissigen, hibbeligen Hundes. Er sei durch den Verkauf einer früh ausgetüftelten IT-Idee, einer kleinen Firma, zu Reichtum gekommen, hätte aber nie etwas damit anfangen können, er hätte keine Kultur gehabt, keinen Stil, keinen Filmgeschmack, keine Bücher, er habe einfach weitergelebt wie diese Männer, die nie eine Frau abbekämen, oder wie Typen, die plötzlich doch eine abbekommen und ihr Glück nicht fassen könnten, das zugleich ihr Unglück sei, weil sie damit ihre Identität als Frauenhasser, als Abgewiesene verlören und somit nackt dastünden, jeglicher Meinung, Haltung, jeglicher Kraft, die zuvor aus ihrem Hass sich speise, beraubt. Sie seien dann, zumindest sei dieser Mann, man könnte ihn Marcus nennen, mit C, und so ähnlich hätte er tatsächlich geheißen, weil alle guten Geschichten auch etwas von der Realität enthielten, eine Art von Ähnlichkeit, in einem Zustand glücklichen Unglücks, eines ständigen Schwankens dazwischen, einen zu verwöhnen und zu verhöhnen, alles für einen zu tun und einen zu demütigen.
Anatol sagte eine Weile nichts oder murmelte etwas, er sah mich an als wolle er mit einem Blick auch meine Gedanken solcherart durchröntgen, dass er dann wisse, ob meine Story echt sei, oder ob ich ihm einfach irgendetwas erzählte, um ihn zu unterhalten und das Schweigen, das oft auf solchen Feiern herrscht, zu durchbrechen. Ob ich wie Sherezade immer weitersprach, damit er mich nicht durch seinen Weggang von mir töten könnte.
Sie haben diesen Mann also, sagt er dann, er trägt eine dunkle Jeans mit heller Naht und darüber ein sehr klassisches weißes Hemd, das in der Dunkelheit leuchtet, sein volles, lockiges Haar wippt beim Sprechen, nach allem was sie heute wissen. Wie sie heute, mit etwas Erfahrung denken. Oder nach womöglich einigen Durchleuchtungen ihres Innern, sie denken heute, sie haben ihn nicht geliebt?
Ich schwanke ein wenig auf A. zu, da ich an den Mann denke, an seine hängenden Oberarme, die primitiven Gesten, mit denen er mich einlud in den Tischen der Restaurants, wie er Streit suchte mit jedem Kellner, mit allen Taxifahrern, ich denke an seinen Penis, wie man ihn morgens sah, weil er immer nackt und ohne Decke schlief, eine zusammengezogene, knittrige Haut, die mich abstieß, und ich bin jetzt nah an Anatol, der gut riecht und von dem ich mir immer noch nicht sicher bin, ob er existiert.
Ob man mich nicht betrunken aufliest auf diesem Balkon.
Mahnende Worte der Gastgeberinnen.
Einmal nur hätte er selbst ein Taxi bestellt. Damals sei alles zusammengekommen: Eine Ablehnung des Buchs, die ihn in Nöte gestürzt hätte, wie man es sich heute kaum vorstellen könne, wo man Zurückweisungen, Niederlagen schon gewohnt sei, gekonnt über sie hinweggehe. Wo man sich selbst begreife als Mensch mit diesen Schwächen und Niederlagen. Er sei kurz davor gewesen, Verlage hätte mit ihm in Kontakt gestanden, wie man so sagt, aber schlussendlich. Die Kritik hätte in etwa gelautet, dass die Geschichten gut seien, literarisch glanzvoll, aber einen nicht berührten, dass sie eine Distanz erzeugten, die den Leser, die Leserin nicht „mitnehmen“ würde, wohin auch immer. Er hätte dann selbst seine Freundin verlassen, Silvia habe es ganz ruhig aufgenommen als hätte sie damit zu jeder Sekunde gerechnet, und als sie ihre Sachen zusammengeräumt hätte, sei die Wohnung gar nicht leerer gewesen als vorher. So als hätte es sie, seine Beziehung zu ihr, alles Kennenlernen, alle Gespräche, niemals gegeben. Und das Taxi kam, eine Frau saß darin, sagt Anatol, sie habe etwas so ausgesehen wie du, sagt er zu mir, eine schöne Frau mit dem Haar lose und als hätte sies eilig gehabt, zusammengebunden, sie hätte beim Fahren immer mal wieder aufs Lenkrad getrommelt, als würde ihr Leben von einem nichthörbaren Soundtrack begleitet, sie hätte ihn angelächelt, die ganze Zeit, aufmunternd, hätte ihm Fragen gestellt, nach seiner Lieblingsfarbe, Lieblingstier, Lieblingsgericht, er hätte geantwortet: gelb. Kolibri. Oder Elefant. Spaghetti. Dann seien sie vor dem Krankenhaus angekommen und sie hätte ihm noch ein Stück geholfen, zur Notaufnahme, eine zierliche, recht große Frau wie du, und er so schwer gestützt auf sie, ein schlechtes Gewissen hätte er gehabt, und im Leuchten der Lichter der Klinik, es sei spät und Nacht gewesen und die Notaufnahme hätte einen schmalen Aufgang gehabt, leicht ansteigend, ohne Treppe, hätte er sich umgesehen, sie sei noch etwas im Taxi gesessen, glaube er, aber könne es mit Sicherheit nicht sagen, vielleicht hätte sie an ihn gedacht, aber das sei wohl unwahrscheinlich.
Wir stehen auf der Straße, die Wohnung oben wird dunkel, die Gastgeberinnen gehen zu Bett, sie haben ein stabiles Ehebett aus Eiche, ich habs gesehen durch die geöffnete Tür auf dem Weg zur Toilette, sie stand ein wenig offen, nur so weit, dass man erahnen konnte, in welcher Sicherheit die beiden zu leben glauben. Ich schwanke, und Anatol ist noch da, er steht da und wirft jetzt seine Tasche über die rechte Schulter. Gegenüber strömen Leute aus der letzten Kinovorstellung, ein Kiosk daneben hat geöffnet, kühles Neonlicht strömt auf die Straße, es riecht nach Fett, ich überlege, ihm zu erzählen, wie ich ein Taxi nahm in Prag und der Taxifahrer die Straße nicht verstand, in die ich wollte, ich sagte sie drei Mal, und er fuhr zu dieser und jener Adresse, und immer war ein Laut falsch, zu viel, ungeschickt ausgesprochen, und irgendwann ließ er mich raus und sagte, ich würde nie nach Hause finden. Er sagte es mehr verzweifelt und ratlos, ich gab ihm einige Kronen, ich setzte mich in eine Kneipe und trank etwas, und als ich sehr betrunken war, verließ ich die Kneipe und ging. Ich ging und ging, die Nacht hindurch, und als es Morgen wurde, die Sonne aufging, ein frischer, heller Tag, sah ich, dass ich auf einem Hügel über der Stadt war, ganz allein. Der Blick war atemberaubend, ich setzte mich auf eine Bank, hinter mir war ein Wald. Niemand war zu sehen, und unten, in der Stadt, begann der normale Tage für alle. Ich habe Angst, dass A. ein Gespenst ist, eine Idee von mir, die sich verflüchtigt, ein Taxi hält neben uns, der Fahrer sieht uns prüfend an, dann nickt er. Wir steigen ein.
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