Der Supermarkt als Utopie

Der Supermarkt bei mir um die Ecke verkörpert die in Franz Kafkas "Amerika" gezeichnete Utopie einer Welt, in der für jeden Menschen Platz ist. Die Kassiererinnen begrüßen einen nicht. Sie reagieren nicht auf Fragen. Sie sind langsam wie Menschen, die eigenlich schlafen. Oder sie drücken einem das Geld mit einem Lächeln, das nach Drogenrausch aussieht, in die Hand. Die Käsetheke ist meist verwaist. Produkte wie Oliven, Espresso, Butter oder Sahne sind manchmal tagelang nicht aufzufinden. Der Supermarkt funktioniert offensichtlich jenseits gültig geglaubter ökonomischer Regeln. Bei Kafka kommen alle Leute, egal, was sie vorher gemacht haben, als Arbeiter in einem riesigen Zirkus unter. Entgegen der Annahme, Kafka habe nur "düsteres Zeugs" geschrieben, geht "Amerika" gut aus. Die Leute müssen sich zwar, ganz schön kafkaesk, auf komplizierte Weise registrieren lassen. Aber dann sind sie angenommen. So wie die Kassiererinnen: Die Leute, die in meinem Supermarkt einkaufen, beschweren sich nie. Ohne zu drängeln stellen sie sich an, ohne Murren warten sie, wenn mal wieder eine Kasse nicht besetzt ist. Neulich sprang das Kartenlesegerät nach langer Zeit endlich an, und die Kassiererin strahlte und sagte zu mir: Was haben Sie für ein Glück!

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