Kirschernte

Der Garten der Raditschs schien zu leuchten: besonders jetzt, in der Hitze und Helligkeit des späten Sommers, in der Zeit der Kirschernte. Alles lief auf einen geheimen Punkt des Gartens zu, wo der Kirschbaum stand. Ich schaute in den Himmel, der von den Zweigen durchschnitten wurde. Dort hingen die Kirschen prall und rot. Am Fuße des Baums waren Plastikeimer, sie lehnten aneinander, offen, als würden sie auf mich warten.

Marion hatte schon volle Eimer ins Haus getragen.
Man forderte mich auf, die Leiter hinauf zu steigen und auch Kirschen zu ernten. Ich ging einige Schritte auf die Leiter zu, die am Baumstamm lehnte: Sie war alt und abgeschabt. Als ich meine rechte Hand an die Sprosse legte, spürte ich das Holz splittrig an der Handinnenfläche.
Wahrscheinlich war es Herr Raditsch, der mich aufforderte. Seine Stimme war laut, sie schien tief ins Ohr zu dringen.
Herr Raditsch war groß und robust, viel fröhlicher als mein Vater. Herr Raditsch sagte öfter: Wer sät, der erntet.
Er strich sich dabei über den Bart, und dann lachte er und seine Augen wurden klein.
Frau Raditsch war die schönste Frau, die ich kannte: Ich bewunderte ihre seidigen lange Haare, ihre schlanken Beine, die in Jeanshosen steckten und mit denen sie durch die Küche zu tanzen schien, und ihr ebenmäßiges, junges Gesicht, dem das Gesicht meiner Freundin Marion so ähnlich sah. Marions Bruder Philipp war blass. Sein blondes Haar hing ihm ins Gesicht, wenn er am Rande der Straße saß und mit Ameisen spielte, allein auf Beton – mit Ameisen, oder gegen die Ameisen; er haute drauf, mit einem Stein, bis die Ameisen kleine Matschflecken waren, winzig, er saß da, bis Frau Raditsch ihn rief, mit ihrer immer fröhlichen, hohen Stimme, die sich in unserer Straße verlor, verlorene Wortfetzen in der Luft – ich hörte sie in meinem Zimmer, viele Häuser weiter, wenn ich das Fenster geöffnet hatte.
Bei Raditschs hörten wir Platten im Wohnzimmer.
Wir saßen dem Plattenspieler gegenüber in Plüschsesseln, und Marions Mutter brachte uns Limonade. Die Limonade schwappte in den Gläsern, schien durch die Gläser hindurch, die Frau Raditsch auf einem Tablett trug, vorsichtig, elegant – nie schwappte etwas über den Rand. Eine der Schallplatten hörten wir heimlich, in Marions Zimmer: Der Sprecher erzählte mit kratziger Stimme von einem Schiff, das verloren im Meer treibt: nur Tote sind an Deck.
Marion Raditsch hatte ein Kugelspiel, das ich auch gerne gehabt hätte. Die Kugeln klackerten durch eine Holzbahn, sie liefen ihre Route gleichmäßig, bogen um die Ecken, beschleunigend, hüpften einem unten kühl und wertvoll in die offene Hand. Meine Hände waren oft schmutzig, Marions nie. Sie schälte Schokolade ganz langsam aus dem Papier, sie zeigte mir ihr Versteck für Süßigkeiten im Schreibtisch: In einer verborgenen, von außen nicht einsehbaren Schublade lagen Nikoläuse, Osterhasen, Bonbons in buntem Papier, Konfekt in Sternform mit ausgestanztem Rand: Süßigkeiten aus diesem Jahr, vom letzten. Marion trug den Schlüssel immer bei sich, manchmal sogar in der Unterhose. Ich strich über das glänzende Stanniolpapier und dachte an meine Süßigkeiten, die ich sofort aufaß.

Bei uns spielten wir Würfelspiele bis uns die Augen zufielen, wir spielten viel länger, als Marion es zuhause durfte, denn sie musste zwei Stunden nach dem Abendbrot ins Bett. Am liebsten gingen wir mit unseren Holzmännchen den Weg zum geheimen Schloss, wir würfelten schnell und kriegten rote Ohren, das Blut sauste im Kopf. Marion schlief neben mir im Bett, sie lag so nah und atmete gleichmäßig, ich hätte gerne in ihr Haar gefasst. Ich konnte nicht einschlafen und horchte auf die Stimmen unserer Eltern, die unten zusammen saßen und tranken. Man hörte Herrn Raditsch kollernd lachen und die helle Stimme von Frau Raditsch, die Stimmen meiner Eltern hörte man nie: als seien sie Gespenster, als seien sie gar nicht da.
Einmal verbrannte sich Marion bei uns die Finger an einer Glühbirne: Vorsichtig hielt meine Mutter ihre Hand unter das kalte Wasser. Einmal machte sie sich einen Fleck in ihre Hose und traute sich nicht, das ihrer Mutter zu sagen. Wir gingen mit der Hose zur Wäscherei, wo ihr Vater arbeitete. Es war heiß und die Scheiben beschlagen, und fünf dicke Frauen mit kräftigen, hängenden Armen am Eingang hielten uns auf und fragten, wo mein Vater herkäme.
Er sei wohl nicht aus dem Dorf, nicht wie die Raditschs, die schon lange dort lebten.
Ich wusste nicht, wo mein Vater herkam, ich wusste nur, dass er weg wollte, und ich sagte: Bayern, und sie öffneten ihre Arme wie Schranken und ließen mich durch.
Der Garten der Raditschs kam mir groß, viel größer als unser winziger Garten vor der Wohnung, seine Grenze schien nicht absehbar, und der Baum war so fest in der Erde, so fest wie nichts mehr, das ich später sah: niemand würde seine Wurzeln aus dem Boden reißen können. Ich stand am Tag der Kirschernte lange vor der Leiter: Meine rechte Hand um die Sprosse gelegt, spürte ich unter meinen dünnen Sommerschuhen die Unebenheit des Grasbodens, und unter meiner Hand das splittrige Holz. Ich hatte Angst, ein Spreißel könne eindringen, ich sah nach oben: die Kirschen sahen aus wie kleine, fliegende Bälle.
Ich war ein ängstliches Kind, ich zuckte zusammen, wenn jemand laut redete, ich stieg auf die Leiter. Es rauschte in meinen Ohren, ich stieg höher. Die Leiter zitterte, sie schien zu schwanken, man konnte mir vielleicht unter den Rock sehen, wo ich verschwitzt war, es war kühl unter dem Baumdach, die Leiter dehnte sich aus und ich war noch nicht an ihrem Ende, ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte, nach den Kirschen zu greifen, ich erwischte nur eine und zerdrückte sie, als ich mich wieder an der Leiter festhielt: rot, tiefrot troff es mir die Hand hinab, als hätte ich eine Wunde.
Ich sah nach unten, wo die Raditschs standen.
Sie kamen mir jetzt klein vor, und ich dachte, sie könnten nur an diesem Ort stehen und nirgends sonst, ich konnte am Gesicht von Herrn Raditsch sehen, dass er über meine Angst lachte, es bebte in ihm, er hielt seine Tochter im Arm, deren Haar gesund aussah und leuchtend wie immer.
Die Leiter hinab stieg ich noch vorsichtig: jeder Schritt auf der Sprosse ein Herzschlag, die zerquetschte Kirsche klebte mir in der Kuhle zwischen Daumen und Zeigefingern, ich sah noch sein Gesicht – mit der hochgezogenen Augenbraue, als widerfahre ihm etwas Unerhörtes, Überraschendes –, ich sah nur ihn, denn vielleicht waren Marion und ihre Mutter längst ins Haus gegangen, er lachte nicht mehr, er rief, doch ich hörte es nicht – fast stieß ich einen Eimer mit Kirschen um, als ich aus dem Garten rannte, fast stolperte ich, doch ich erreichte das Tor, das jeder Garten hat, es quietschte leicht, als ich es öffnete, ich hörte nicht, ob Herr Raditschs Schritte hinter mir waren, und dann rannte ich auf Asphalt, rannte sicher.

Kommentare

Beliebte Posts