Ortskenntnisse

Zuerst wohnte ich auf der einen Seite von O., dann auf der anderen. Die beiden Seiten sind durch zwei etwas größere Straßen voneinander getrennt. Früher hatte ich das Gefühl, die eine führe aus O. hinaus, die andere nach O. hinein. Würde man von der Seite meiner frühen Kindheit, als ich mit meinen beiden Eltern in einem Haus lebte, losfahren, etwas mit dem Rad, wo ich später ohne meinen Vater in einer Wohnung lebte, käme man an mehreren Kreuzungen vorbei. Diese liegen gleichsam orthogonal zu den großen Straßen. Man hat also die eine größere Straße schon überquert, die andere würde man auf dieser Strecke nicht einmal streifen, sie liegt also gar nicht auf dem Weg und spielt keine Rolle, ich ging, rechts und links schauend, über sie, als ich klein war, fünf Jahre, und man mich ausgestattet mit einem der damals üblichen Einkaufsnetze, deren Fäden viel Licht durchließen, durch die man hindurchsah, durch die, so fürchtete man stets, Eingekauftes fallen könne, losschickte zum Laden von der A. 

Die A. hatte eine Kittelschürze an und führte den Edeka als hätte sie ihn mit eigenen Händen aus dem Staub einer Wüste hochgezogen. Das Innere war in voll mit allem, was man überhaupt braucht, also Reis mit Huhn und Ravioli in der Dose, Käse, Milch, Brot, Süßigkeiten, das Innere des Ladens war voller Menschen, denn die A. sprach mit jedem, es gab immer ein paar Trostworte der A. zum Einkauf hinzu, und alles erschien mir als Paradies der Fülle wie die Rundungen der Frau, die immer praktische kurze Haare hatte. Magisch aber war der Eingang, vor der Tür mit der Ladenglocke und der Stufe, über die man nicht stolpern sollte, denn dort gab es Zeitschriften und Comics. Es gab sogar erstaunlich viel Gedrucktes dort zu kaufen im Verhältnis zur sonstigen Größe des Ladens, und später, als meine Mutter gar nicht mehr in der Nähe der einen großen Straße wohnte und also gar nicht mehr in der Nähe dieses Ladens, hielt die A. für meine Mutter immer noch eine Ausgabe der feministischen Zeitschrift bereit, die sonst keiner las. Für mich gab es immer Biggi – Was Mädchen alles erleben, Gespenstergeschichten, die endeten mit seltsam? Aber so steht es geschrieben und Vanessa, die Freundin der Geister. Manchmal auch: Horrorgeschichten. Ich war in England im Regen, wenn Biggi Johnny nachsah, ich war im Italien der Pest ("Die Comtessa ist entsesselt zu Boden gesunken!") oder auf einer einsamen Insel, wo ein Überlebender mit einem Hund kämpft.

Pferdehefte hätte ich nie oder nur zur Not gelesen. 

Die andere große Straße führte für mich in den Ort hinein, zum Kern mit ein paar Fachwerkhäusern, zwei Kirchen, einem Kaufhaus, das es heute nicht mehr gibt und das Rolltreppen hatte. Nach ganz oben fuhr man, wurde getragen, schwebte, gleich dort, wo die Rolltreppe endete, war ein Regal mit Kassetten. 

Ob es eine neue Flash Gordon Ausgabe gibt.
Eine Verkäuferin, die dort hinter der Theke wartete – es war um diese Zeit niemand sonst außer mir in der sagenhaften Kinderabteilung und gegenüber der Theke standen die Barbiepferde, von denen mir meine Oma, auf Besuch bei uns, eins kaufen würde, und nie würde ich die Träumerle-Puppen bekommen, von denen die Reklame sprach –, die Frau hinter der Theke zog die Augenbrauen hoch, legte ein Magazin weg, das sie las, unter den Ladentisch, wirkte ein wenig verärgert, ein wenig, als sei sie bei einem wunderbaren Traum gestört worden, und sie sagte: Du warst doch erst gestern da.

Ich war doch erst gestern da!
Und so geh ich herum. 

Die Straße, die hinein, zum Kaufhaus, zu den Kirchen, führte, war die meines Schulwegs, und oft trottete ich, in Cordhosen, die Fransen fielen mir ins Gesicht, die anderen Kindern fuhren auf dem Fahrrad an mir vorbei, meins war wohl oft kaputt. Manchmal ging ich mit meinem besten Freund, wir hielten an den Ecken mit den Kaugummiautomaten, klackernd fielen uns Dinge in die Hand wie Schnee oder Sterne, wie umsonst.

In der Mitte gab es einen Garten mit Pferden. Sie grasten dort und sahen freundlich zu einem hin. Einmal würde man über den Zaun stiegen, auf eins steigen und dann sagen spring und davonreiten. 

Und links das Eiscafé, wo die Teenager in ihren Eisbechern rührten und leise klapperten, wie ich später auch. Davor die leere Höhle des Fahrlehrers mit den Sprüchen vom Steuerknüppel und den Männern, noch war es nur ein Schuppen mit Rasenmähern. Eine Videothek, in der wir so oft standen und beratschlagten, welcher Film, und dann die Plastikclips von den Regalen ziehen, und wenn er weg ist, schon ein andrer ihn ausgeliehen hat, ist es nun doch genau der Film, der uns heute Abend in eine andere Welt versetzen würde, nach der wir uns sehnen, einer Welt mit hohen Häusern, Tanz, Abenteuern in Dschungeln und mit Liebe, so zwingend und schön, wie sie hier nie einer erlebt, schon gar nicht unsre Eltern. Und die Zoohandlung! Wie oft stehst du davor und schaust die Hamster an, die Wellensittiche, so vielfarbig sind die Vögel, und welchen wirst du haben, einmal? (Und einmal dann tatsächlich drin gewesen und hast dir einen aussuchen dürfen, und im Auto nachhause und wie es piepste und pickte in dem kleinen Karton in der Hand!)

Die lange Straße also ging ich als ich auf der einen Seite des Ortes wohnte, weil meine Grundschule an deren Ende lag. Und als ich umzog, als wir alles zurückließen, da lebte ich auf der anderen Ortsseite von O., und obwohl ich dann die lange Straße hinein ins Zentrum noch oft ging, so war sie doch eine andere Straße, weil ich sie von einem ganz anderen Punkt aus begonnen hatte.

Früher also überquerte ich oft die eine große Straße, um zur Eisdiele, zum Videoladen, zur Zoohandlung zu gelangen. Und ich überquerte die andere große Straße, aber selten ging ich dann noch zum Laden der A., der so weit weg war jetzt, obwohl sie immer noch Gespenstergeschichten für mich bereithielt.

Ich überquerte die Straße und war dann von dort aus zurück in mein altes Zuhause gegangen, das jenseits der kleinen Kleiderfabrik und jenseits des Zigarettenautomaten lag, wo ich früher für den Vater eine Packung oder zwei gezogen und sie als Schatz nach Hause getragen habe. Es war die Straße, von der ich mir einbildete, sie würde aus dem Ort hinausführen. Aber lange Jahre ging ich niemals so weit auf dieser Straße, dass ich auch nur annährend an den Ortsausgang gelangt wäre, obgleich dieser nah war.

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