Schatzkarten (aus: Dinge als Kind)
Wichtig waren die angekohlten Ecken. Man erzeugte sie, indem
man ein Feuerzeug vorsichtig ans Papier hielt, bis es schwarz wurde und
knisternd abfiel. Als Kind mit einem Feuerzug umzugehen, ist schwierig, verboten,
aufregend. Dass die Ecken angekohlt waren oder ganz abgefackelt, das war
unabdingbar. Sie waren der Ausweis der Authentizität, die Beglaubigung, dass es
sich um eine echte Schatzkarte handelte, auf sie wurde fast mehr Liebe
verwendet als auf die Zeichnung, die den Inhalt der Karte ausmachte: Hügel,
Wellen, ein Kreuz. Dort war der Schatz. Auf die Suche geschickt wurden die
kleineren Kinder, die hilflosen, lieben, die uns alles glaubten, für die wir
Götter waren oder Piraten. Kleine Geschwister, Nachbarskinder, jüngere Freunde.
Manchmal gab es davon zu wenig, denn ich hatte viel mehr ältere Freundinnen.
Solche, die mich im Griff hatten, mir Dinge befahlen, von denen ich fasziniert
war. Die Jüngeren gruben die Schatzkarten aus. Sie holten sie vom Baum – „schau
mal, was ist das?“ Glaubten sie den Zauber? War er für sie echt? Hielten sie
die tatsächliche, jahrhundertealte Schatzkarte eines längst verstorbenen
Piratenkapitäns in Händen? Oder waren sie es, die uns eine Freude bereiteten,
indem ihre Stimme hoch wurde oder ausblieb, die schwitzig waren vor Aufregung,
die sofort losrannten: dort, das muss das Kreuz sein, dort ist ja der Hügel,
das ist ja nur der Garagenhügel der Nachbarn!
Die Kreuze waren aus Holz
gebastelt, zusammengebunden, wie oft war der unsichtbare Faden aus den Fingern
geglitten, weggerutscht, wir hatten geflucht wie alte Piraten tatsächlich
fluchen und drei Mal auf den Boden gespuckt. Die Kleinen rissen das Kreuz weg,
sie rannten weiter, den Hügel hinauf, wie sie immer rannten und immer die Hügel
hinauf, und dann hinunter, wie sie die Landschaft durcheilten wie kleine
Figuren, sie waren jetzt schon, während sie rannten Punkte, winzig, auf einem
Bild aus geronnener Zeit, und hinter ihnen andere, neue Kinder. Atemlos blieben
sie vor dem Zaun stehen, wie rostig der war. Im Sommer dran festgehalten, um
Rollschuhfahren zu lernen, die Hände voller Rost. Gegenüber wohnt die alte Frau
mit den Hühnern, die laut gackern und irgendwann plötzlich verschwunden waren,
jedes Mal aufs Neue, einfach weg, eine Leerstelle im Garten. Da müssen wir
vorbei, und am Zaun entlang, und dann hinten ins Feld hinein, das sieht man
ganz deutlich. Wie wellig die Schatzkarte ist, als sei sie ins Wasser gefallen.
Wir schließen die Augen. Noch nie war einer von uns am Meer, es ist weit weg,
aber wir können das Salz auf der Zunge schon merken, wenn wir uns anstrengen,
wir hören die Wellen rauschen. Jetzt ist der Junge der erste, wir haben eine
Schaufel vorbereitet, alt, aus Plastik, aus der Zeit, als unsere Mütter mit uns
auf Spielplätzen waren, wo die andern Mütter saßen im Vorort, umgeben von
Garagendächern, glasig, mit Broten, mit Geduld, nie kamen sie dazu, die Bücher,
die sie in den Fransentaschen mitgebracht hatten, tatsächlich zu lesen. Für sie
waren wir der Schatz, das sagten sie, und wir glaubten es, spielten Murmeln,
glaubten es, auch wenn sie seufzten, die Mütter, alle mit langen Haaren, durch
die man streichen konnte beim Einschlafen, und mit Pony, der ihnen immer zu
tief ins Gesicht hing.
So wir uns Kindern. Immer ist das Haar etwas zu lang, es
fliegt um die Köpfe, wenn wir rennen, es verstellt uns die Sicht. Deswegen muss
immer was verborgen bleiben vor unserem Auge, es gibt immer ein Geheimnis: wenn
die Eltern flüstern oder englisch reden. Im Gurgeln des Brackwassers, das im
Kübel sich sammelt, der Hexenbrunnen. In den Vereinigungen der Kinder auf dem
Schulhof, die sich zusammenfinden, auseinandergehen wie von einem unsichtbaren
Wind zusammengefegt, und einer bleibt allein stehen. Wie die Schatzkiste, in
der etwas drin ist, das wir selbst hineintaten, und etwas bleibt leer. Die
Kinder essen die Schokolade, letzte Reste von Ostern, von Weihnachten,
aufgehoben, einpackt in Staniolpapier, das so glänzt wie Gold, halb
ausgewickelt, jetzt geopfert für den Schatz, auf den die Karte verwies, die
jetzt im Gras liegt, dorthin fliegt, leicht ist, nicht mehr vollgeladen mit
einem Geheimnis, einer wichtigen Information, in ein oder zwei Tagen werden wir
eine neue machen, noch kunstvoller, und noch tiefer wird sich das Schwarz in
das weiße Papier eingraben, dann.
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