Gehst du (nominiert für den "Wiener Werkstattpreis" 2013; publiziert in der E-Anthologie)

 1

Du gehst los: die Treppe hinunter, einen Fuß vor den andern. Das Frieren ist schon da. Die Angst ist schon da.
Du gehst in Jeans, in Stoffhosen, in Strickhosen mit glänzendem Innenfutter, in Hosen mit großen Flicken in anderer Farbe. Die Hosen kratzen auf der Haut, sind eng. Du bist früh dran. Du schaffst es nicht rechtzeitig, die Beine werden nass. Du spiegelst dich in den Autofenstern. Den Autorückspiegeln. In den Scheiben der Boutique. In Scherben am Boden.
2
Bei hundert hörst du auf: Du zählst die Schritte vom Klettergerüst bis zum Haus. Du beginnst beim Pult, in das etwas eingeritzt ist: geheime Flüche, ein Bann.
Andere Kinder fahren auf dem Fahrrad, fahren klingelnd an dir vorbei. Zwölf Schritte, dann triffst du den Freund. Ihr macht Halt an der Baustelle. Du bist vorsichtig, wenn du auf dem Brett über der Grube läufst: Es zittert bei jedem Schritt. Ihr macht Halt bei den Pferden, Halt am Kaugummiautomaten: Eine Münze verschwindet im Schacht, es klackert, wieder nur Kaugummi. Die Hände sind voller Rost.
3
Dein Freund bekommt kein Taschengeld. Du hast immer Geld dabei. Wenn ihr es schafft, einen Gummiaffen für ihn zu ziehen! Im Garten um die Ecke leben Hühner. Du schaust die Hühner an und hoffst, sie werden nie sterben müssen. Du streust deine Münzen auf den Weg, damit Bettler sie finden. Du hast noch nie einen Bettler gesehen, nur im Film.
4
Staub schluckst du auf dem Heimweg. Die Rufe der anderen, die schneller sind. Der Riemen des Ranzens schneidet in die Schultern, Ponyfransen hängen dir ins Gesicht. Du darfst die Striche nicht übertreten. Du bist allein, der Freund ist nicht gekommen. Oder: Er ist nicht mehr dein Freund, ihr habt euch über die Affen gestritten, er läuft weit hinter dir, läuft zu weit hinten, in der Sonne, in deinem Schatten, vielleicht im Winter, wenn der Schnee fällt und unter deinen Schritten zu Matsch wird.
5
Du läufst mit dem Freund nach Hause. Dort hängen die Köpfe toter Tiere, zwei Hirsche, ein Reh. Ihre Augen schauen zu einem fernen Punkt, und an den Geweihen klebt Staub. Dein Freund wohnt mit seinem Bruder im Zimmer. Sein Bruder sieht dich immer lang an. Ihr Vater kommt rein, er holt aus. Die Brille des Bruders fällt zu Boden, wo ihr im Weltall seid: Ihr spielt, sie sei ein Ufo.
6
Die Sonne sticht, und du bist müde. Du warst wach in der Nacht, das Haus war voll unsichtbarer Fäden. Du gingst die Steinstufen hinunter, Kälteblitze am Fuß, ein Flüstern, das Gemurmel der Eltern im Ohr.
Du bist spät dran, und Schnee fällt. Die Mutter zieht den Schlitten des Bruders. Beim Gehen hörst du das Klacken der Stiefel am Schlitten, und das Knirschen der Schritte. Längst hat die Schulglocke geläutet. Längst hat die Stunde angefangen, ist die Stunde zu Ende, als ihr um die Ecke biegt: Ohne anzukommen, drehst du dich um.
7
Die Hosen sind zu kurz. Die Hosen sind zu lang. Du frierst im Rock. Im Rock bist du los gelaufen, du hast dich im Kreis gedreht, der Rock ist in die Höhe geflogen, als ob auch du fliegen könntest. In der Glasfassade vor dem Eissalon siehst du dich. Du bleibst stehen. Du gehst einen Schritt zurück: Du sieht nicht aus, wie du gedacht hast: du siehst nicht aus wie du selbst.
8
In der Hitze glüht der Sand wie eine Wüste. Kinder laufen vorbei, rennen, strecken ihre Arme in die Höhe: Der Himmel gehört ihnen, wie die Erde. Du hast Angst vorm Versteckspielen, vorm Blindekuh, vorm Fangen. Du bist zu langsam, du wirst gefangen, dann musst du die anderen fangen, die sich schnell verbergen, du schwitzt, du siehst ihre Silhouetten, verwischt, flimmernd, schon verschwunden, hinter dem Stromhäuschen, unter der Rutsche. Ein Junge lässt sich fangen. Er riecht nach Leberwurst, Apfel.
9
Ihr sitzt in Reihen. Ihr sitzt in Tischgruppen. Du sitzt vorne, du sitzt hinten, du sitzt neben dem Mädchen, das aus einem Land am Meer kommt. Ihr macht Umwege auf dem Heimweg, ihr biegt rechts ab, nicht links, ihr lauft zum Maisfeld. Der Mais ist hart, ihr knabbert die Körner einzeln, du schmeckst Blut im Mund. Dann ist sie weg. Immer wieder drehst du dich um: Ihr Platz bleibt leer.
10
Du fährst mit der Mutter, es hat geregnet. Man muss aufpassen, nicht in eine Pfütze zu treten beim Aussteigen. Dann ist es zu spät, du trittst in die Pfütze, und die Hose wird nass, wie einmal schon, als die Kinder lachten, sie zeigten auf dich.
Der Vater holt dich ab. Du siehst sein großes Auto durch die Büsche. Du hast Angst, dir in der Autotür wieder die Finger zu klemmen: Der Daumennagel verfärbte sich violett, darunter nur schwarz. Vorsichtig schlägst du die Autotür zu, trotzdem erschrickt dein Vater. Sein Gesicht ist dünner als früher.
11
Die Lehrerin fängt dich ab. Sie fragt, was mit dir los ist, fragt es unter der großen, gemalten Sonne. Du hörst dein Herz klopfen, dein Mund öffnet sich. Du willst es sagen, aber dir fällt das Wort nicht ein. So schaust du auf die Tropfen im Fenster. Die anderen laufen vorbei, sie setzen sich Regencapes auf. Sie tragen Regenjacken, Gummistiefel, du siehst sie durchs Fenster draußen rennen, sie leuchten im Regen.
12
Jungen passen dich ab auf dem Heimweg. Einer trägt einen Pullover mit Hund: vielleicht ein Collie oder Bernhardiner, oder ein Hund, den es nicht gibt. Vor Wochen noch hast du mit ihm hinter den Garagen Murmeln gespielt. Du hast geschickt gezielt und oft gewonnen. Die Murmeln haben sich kostbar angefühlt in der Hand, schwer und glatt.
Der Junge sagt, du sollst dein Geld rausrücken. Du kramst im Ranzen, aber du findest nichts. Es ist leer im Hof und riecht nach Tier. Die Jungen drehen dir die Finger um, sie drücken dein Gesicht zur Wand.
13
Der Heimweg ist kurz: Du fährst mit dem Fahrrad. Der Fahrtwind weht dir durchs Haar. Im Eissalon sitzt niemand. Manchmal hältst du an und kaufst ein Eis, Erdbeere, Schokolade, Vanille nie. Dann musst du das Rad die restliche Strecke schieben, und das Eis tropft dir auf die Finger. Du kommst vorbei an einem Garten, in dem es Pferde gab. Irgendwann gibt es keine Pferde mehr, oder vielleicht hat es nie Pferde gegeben.
14
In der Tankstelle gibt es salzige Stangen. Ihr lutscht daran, alles Salz ist weg. Der Sohn des Pächters geht in deine Klasse. Er sagt dir, dass er dich mag, sagt es leise, als du bezahlst.
Du bezahlst immer. Es ist warm, es riecht nach Benzin, das Benzin schillert in den Lachen in der Sonne, Lachen vom letzten Regen, es ist sehr heiß, du machst einen großen Schritt, über die Pfützen hinweg, du bist barfuß. Dein Freund behält die Schuhe an.
15
Ihr rennt, immer bis zur nächsten Ecke, vorwärts, bis zum Automaten. Ihr zieht einen Affen! Der Affe sieht aus wie deiner, mit langen Armen, die die Welt umgreifen. Du rennst auch den Weg zum Haus zurück, überspringst die Linien der Platten, du darfst sie übertreten, ganz schnell geht dein Atem. Beim ersten Schritt ins Wohnzimmer wächst der Raum: Er ist riesig, und dein Vater weit weg. Du bleibst stehen, du bist aus Stein. Selbst wenn du rennst, kannst du ihn nicht erreichen: Seine Augen sind nass, geweitet und leer.
16
Du traust dich nicht heim. Es riecht nach Regen. Du biegst in die Hauptstraße, biegst ab in Seitenstraßen, du läufst vorbei am Video-Shop, an der Tankstelle, an der Boutique mit den nackten Schaufensterpuppen, sie zeigen auf dich. Die Tropfen trommeln auf deinen Rücken, du bist ohne Schutz. Du läufst ins Industriegebiet, es dampft, Regen fällt im Takt von Maschinen, du gehst, bis du die große Straße siehst, bis ans Ende der Stadt. Erst wenn du ganz nass bist, bis auf die Unterhose, bis auf die Knochen, erst dann kehrst du um, du kommst an am Haus. Die Tür ist angelehnt, und niemand ist da.
17
Jungen sehen dir nach. Sie winken und grinsen, und einer sagt: „Ich lade dich zum Eis ein.“ Du trägst deine Haare lang und die Jeans eng, und du hast anders Angst als früher. Ihr kauft Tiefkühlpizza im Supermarkt. Ihr macht euch Sandwichs. Ihr kauft Pommes Frites im Hähnchengrill. Heimlich probiert ihr den Schnaps aus dem Regal seiner Eltern, Schnaps mit Zimt, aus einem fernen Land, in das ihr auch eines Tages reisen wollt. Noch aber hustet ihr und kichert und hustet mehr als ihr trinkt und fragt euch, ob man mit so feuchten Lippen küssen kann, oder ob man abrutscht an den Lippen des anderen.

18
Ihr wollt überall hin, nur nicht nach Hause. In der Schule ist euch heiß, und ihr seid nervös. Ihr lacht laut auf, ihr stecht euch uns aus Versehen mit den Zirkeln in die Finger. Ihr habt Lieder im Kopf und wippt dazu mit den Füßen. Wie zufällig berühren sich eure Knie unter der Bank. Nach der Schule setzt ihr euch auf den Hügel hinter der Stadtmauer und raucht.
19
Du bist in Eile. Du hast geraucht auf dem Schulklo. Jetzt schmerzt dein Atem. Du gehst, und alles gleitet vorbei, als würdest du schwimmen. Als du in die Straße einbiegst, siehst du euer Haus im Schatten. Das Umzugsauto versperrt die Einfahrt. Du bleibst stehen, du hustest, du siehst von unten den Vater: Er steht auf dem Balkon, einen Arm angewinkelt, als probe er schon ein Winken. Er sieht dich nicht. Er schaut vielleicht zu den Büschen, oder er zu den Umzugsmännern: Sie tragen Kisten hin zum Auto, sie kommen ohne Kisten zurück, sie gehen vor und zurück: als träumten sie, stark und groß, mit sicherem Schritt.
18
Du gehst in Röcken, die wie Tulpen aussehen.
Du gehst mit Lippenstift auf den Lippen, rot und rosa, und ohne, mit Plastikketten um den Hals, und mit Ringen, und ohne Ringe. Mit Kaugummi im Mund gehst du. Mit zu viel Spucke. Mit zu wenig. Mit Traurigkeit gehst du, mit Aufregung, schnell, schlendernd, mit hängenden Schultern und aufrecht, du gehst immer noch nach Hause, du bist immer noch nicht da, du trägst eine Tasche, sie schlägt dir beim Gehen an die Seite, trocken, pochend, gehst du und gehst.


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