Kindheit reaktionär
Als ich ein Kind war, kam es in Mode, für Jugendbücher mit dem Label „unsentimental
erzählt“ zu werben: Diese Bücher handelten von Kindern mit sterbenskranken verwirrten Großeltern, Kindern,
die verwahrlost der Prostitution nachgehen, und es kamen häufig Entwicklungsländer
vor (was dieser Begriff am Horizont erscheinen ließ: Sand, Schweiß, Fliegen). Die
Kinder in den Büchern waren immer
rotzig, frech und stark, und ich konnte mich nicht mit ihrer robusten
Widerständigkeit identifizieren. Auch Pippi Langstrumpfs penetrant gute Laune war mir unheimlich.
Mein Lieblingsfilm war "Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ aus den Fünfziger Jahren, in dem die junge Romy Schneider ihren
verschollenen Schnulzenpapa kennen lernt. Dieses Machwerk strahlte für mich eine gemütliche
Traurigkeit aus, die einen einhüllt, ganz umfasst, wie ein
Frotteeschlafanzug: Wenn man langsam zu Bett gehen muss, sich aber noch Zeit
ausbedungen hat, unter der Decke zu lesen. Ich liebte Show-Treppen, von denen Moderatoren
mit feinen Anzügen und Lackschuhen hinab stiegen, begleitet von leicht
bekleideten oder eleganten Damen mit Puscheln auf dem Kopf, besonders mochte
ich es, wenn die ganze Crew dabei steppte. Mag sein, ich stammte nicht aus
einer heilen Familie, aber wer tut das schon, mag sein, ich war ein Kind mit reaktionärem Geschmack, jedoch: ein Kulturprodukt, das einen weißen
Flieder zum magischen Symbol des Glücks und des rückwärtigen Glücks der
Wiedergutmachung aller Trauer kürt, verhieß eine andere, wunderbare Welt.
Kommentare
Berauschend fand ich Fantasybücher, besonders solche mit Liebesstellen. Belletristik zu lesen galt aber in meiner Familie als Eskapismus.