Miniaturen von Gastautor Jörg Jacob

Morgen

Vertrautes Weckerklingeln sechs Uhr fünfundvierzig – sinnloses Ritual. Es gaukelt mir Alltäglichkeit vor und schlägt eine Brücke über das Schweigen der Nacht, vom Gestern zum Heute. Ist der erste Lärm in einer langen Kette aufeinanderfolgender miteinander verwobener Geräusche: Fahrzeuge, Telefone, Radiostimmen, Pochen, Hämmern, Trommeln, Jaulen, Sirenen, Schreie, Gebete, das Klingeln des Postboten.

Der Tag manifestiert sich akustisch, ich bin der Geisterfahrer, bin auf der falschen Fahrbahnseite unterwegs, zornig und schweigend über das Lenkrad gebeugt. Lächerliches Erwachen an einem lächerlichen Tag. Die Heizstäbe des Toasters knacken leise. Am Fenster klopfen und picken Vögel.


Hinterhof

Die Frau auf dem Balkon hält jetzt jeden Tag ihren Monolog. Der Balkon ist dann eine Theaterbühne, die künstlichen Blumen in den Kästen das Bühnenbild.

Jeden Tag spricht die Frau auf dem Balkon und die Tauben auf den umliegenden Dächern hören ihr zu. Sie gurren und flattern von Sims zu Sims, als ob sie Beifall bekunden wollten.

Statisten, murmelt die Frau verächtlich, während sie sich abwendet. Aber die Tauben gurren und flattern unbeirrt, bis sie noch einmal erscheint. Dann verteilt sie Kusshände voller Körner und steckt sich eine künstliche Rose ins Haar.

 Ennui

Das Vergessen geschieht unmerklich, vollzieht sich im Schlaf. An einem Julimorgen langsam erwachen, der erste Blick durch das   Fenster auf die  sommerliche Landschaft draußen, vielleicht eine Abkühlung nach dem lange erwarteten Landregen, die ersten vagen Gedanken an Vorhaben, Pläne, Reisen, bis dann plötzlich eine Beklemmung, eine Unruhe anhebt, lautlos erscheint  wie der Schatten eines großen Fisches in klarem Wasser, in dem man schwimmt. Man hatte es vergessen, für einen Moment und jetzt ist es wieder da: die Bedrohung, die eine Änderung aller bestehenden Verhältnisse befürchten lässt. Für wie lange? Einen Monat, zwei oder drei? Ein ganzes Jahr oder länger? Vielleicht für alle Zeit?


Mein Gastautor, der Schriftsteller Jörg Jacob, hat schon viele Preise gewonnen, so den MDR-Literaturpreis und den Gellert-Preis. Seine Homepage: Jörg Jacob °|||° Autor und Schriftsteller

joerg-jacob.de.

Mehr Miniaturen findet ihr in seinem schönen Buch:



 Jörg Jacob
 KLICK! 99 MINIATUREN

 Klappenbroschur, 116 Seiten
  ISBN 978-3-937799-72-8

  








Die Welt, den Moment festhalten. "Klick" macht es in den kurzen Prosatexten von Jörg Jacob. Mit fotografischem Blick fixiert er Augenblicke, Momente voll Geist und Witz, voll Überraschung und Melancholie. Poetisch und kunstvoll erzählen diese Kürzestgeschichten von den spektakulär-unspektakulären Augenblicken unserer Leben, die nun wie in Bernstein gegossen die Zeit überdauern.


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