Berg

Es war Winter, und sie hatten mich ermutigt, als ich das Bergsteigen ausprobierte. Der Berg schien, nach allgemeiner Ansicht der erfahrenen Wanderer, gut zu bewältigen. Wenn man jung war und gesund, und das war ich, war wie sie. Nach einigen Stunden, eher weniger als mehr, sei man auf dem Gipfel, und das sei eine wunderbare Sache: die Aussicht, sagten sie, du wirst es lieben! Ich liebte einen aus unserer Wandergruppe, wir waren zu sechst. Zwei andere Studentinnen waren befreundet, sie lachten und plauderten beim Aufstieg, es war kalt, ich zog meinen Mantel enger um mich. Nichts war an mir falsch, vielleicht bis auf die Stiefel, deren Absätze etwas geeigneter hätten sein können, flacher, und die Kleidung wetterfester, wenn es davon eine Steigerung gibt, doch eine Mütze hatte ich dabei, die Schutz bot.

Rasch waren die drei jungen Männer ganz vorn. Groß waren sie, ihre Schritte voller Kraft. Sie wurden überholt von den beiden Mädchen, und Mädchen waren wir noch beinah, Mädchen und Jungs, es war ein Spaß, der Weg wand sich hinauf, eng und verschneit, unter uns Wald, Zweige, filigran und mit schwerem Schnee belastet, und mal lagen die Jungen vorn, mal die Mädchen.

Hatten sich anfangs noch alle mit mir unterhalten, mir die Vorzüge des Bergwanderns auseinandergesetzt, wurden sie bald, ohne Absicht, schneller: Konnten nicht anders! Nicht künstlich langsamer! 

Hatten versprochen, dass ich gut mitkommen würde, ohne Erfahrung, das mache nichts, sagten sie, du bist ja wie wir!

Rechts war der Berg, mächtig und steil, unser Weg war ja machbar, nicht die schwierigste Wanderstufe, und der Tag war hell, kristallklar, so ein Tag wie scharf geschliffen, alles war konturiert, nichts verschwommen, alles stach hervor. Der Junge, den ich liebte, vielleicht waren wir sogar ein Paar, ein bisschen eben, mal so mal so, zwinkerte mir zu. Fasste mich am Arm. Sagte, auf, komm schon, das schaffst du! Und dann zogen ihn die Kumpels, denn das waren sie, zu sich, und ein Stück lief ich mit ihnen, und ich lachte auch, kurz und trocken, bis mir die Luft eiskalt in den Hals, und fiel zurück, und dann wieder plauderten die Mädchen mit mir, liefen jetzt neben mir, eine links, eine rechts, sieh mal da, sieh mal da, ihre Hände in der Luft, hier hinten ein Fluss, da hinten unten die Stadt jetzt, in Handschuhen ihre schwunghaften Finger, ich fror, doch umkehren war unmöglich, wir wären bald da! Hinter der Biegung verschwanden die Männer, dann die Frauen, ihre Schritte ließen es nicht anders zu, sie hatten einen Lauf, liefen einfach, es war keine Absicht, sie mussten, der Schnee knirschte unter ihren Schritten, dieses feste Weiß, waren sie fort. Ich war allein.

Wald, so dunkel wie nie gesehen war da, ein Rauschen, und in mir war kein Wille, den Berg zu bezwingen, es schneite.

Hey, rief ich. Kläglich, klagend. Ich war so kläglich. Vorher noch: schön, jung, jetzt: Ein sich mühsam bewegender Punkt auf der Karte.

Hey! Niemand war mehr da. Mein Atem ging rasselnd, ich zitterte, ich lief und lief, und alles war endlos, nie würde ich gerettet.

Alle hatten sich entfernt.

Alles rückte in die Ferne.

Der Schnee, der Wald, der Berg.

Stellte mir vor, wie sie sprachen: Über das Abendessen in unserer Kneipe, würden sie Knoblauchsauce nehmen oder Barbecue, und wie die Kumpels ihn in die Hüfte stießen, fragten, was mit mir sei, oder wie die beiden Frauen ihre Erfahrungen besprachen: Sie waren vollgesogen mit Wanderurlauben, Meerurlauben, Skifahrten, all den Urlauben, die ihre Eltern mit ihnen gemacht hatten, und meine nicht mit mir.

Auf allen Vieren war ich. Keine Handschuhe. Mütze durchweicht, eng am Kopf. Herzklopfen. Kann nicht mehr, dachte ich, kann nicht mehr. Meine Finger wie erfroren, tasteten sich voran, es dämmerte. Dann war ich da – ganz oben.

An den Gipfel erinnere ich mich nicht. An keinen Ausblick, keine Fahnen, nicht den Moment, als ich die Schwelle überschritt. 

Ach da bist du! Sie lachten. Sahen gut aus, ein bisschen erschöpft, in ihren Parkas, Barbourjacken, Ledermänteln, mit den Bommelmützen, Wollkappen, dicken Schals, tranken Tee aus einer Thermoskanne, boten mir welchen an, hatten ja gute Rucksäcke! 

Er lächelte, kam kurz zu mir, fragte, ob es sehr schlimm gewesen sei, siehst du! Dann liefen wir alle, wie leichthändig auf einmal, auch ich, rannten beinah, ein Stück den Berg runter, da war eine Haltestelle, und durch den Schnee sah man jetzt den Bus, seine Scheibenwischer, sein Schnaufen, wie er sich heraufwand zu uns, die Lichter der Scheinwerfer, wir klopften die Kleider ab, stampften auf, um unsre Schuhe vom Schnee zu befreien, wir saßen drin, die Landschaft zog vorbei vorm Fenster, der Berg lag uns im Rücken, mir im Nacken: Kälte, Klumpen, schwere Hand.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Wirklich toll geschrieben!! Normalerweise bin ich wirklich nicht nah am Wasser gebaut, aber bei diesem kläglich, klagenden "hey" können einem echt die Tränen kommen... Lässt sich hoffen, dass das "ich" im weiteren Verlauf noch andere, wahrere Freunde und Freundinnen gefunden hat

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