Brieffreunde


Die Adressen kamen in rechteckigen, rotumrandeten Bögen. Bis zu sechs von ihnen auf einer Seite, man konnte sie heraustrennen. Es waren die Anschriften für Brieffreunde.
Brieffreunde zu haben war wie einen Schatz zu horten, den man nie ausgeben darf. Das eigentlich Beglückende an den Brieffreunden waren nicht die mehr oder weniger lange dauernden Briefwechsel, die sich mit ihnen ergaben. Vielmehr war der erste Brief, den man von einem Brieffreund erhielt, ein Versprechen, das mit dem Klang der Namen der Länder, aus denen man Brieffreunde haben konnte, gegeben war und das nun schon auf seinen Höhepunkt gelangt war: Schweden, Russland, die Deutsche Demokratische Republik, La Reunion. Wo lag das, wie sprach man das aus, was gab es dort, wie waren die Menschen? In all diesen Ländern waren wir nie gewesen. Nur ein paar wenige Schüler wählten das Vertraute, Frankreich, England, oder gar die Schweiz. Wenn man die Adresse zuhause auspackte, holte man das Briefpapier hervor, es war dunkel, bedruckt mit fliegenden Vögeln, Blumen, Marienkäfern oder Regenbögen. Was schrieben wir? Wir schrieben unsere Namen, ungeschützt und eifrig, schrieben das auf, was man als Hobbies bezeichnete, dass man gerne Briefe schrieb war zu erwähnen, unbedingt, dass man gern Musik hörte und las. Doch schrieben das nicht alle? Sicherlich. Wie schwierig war es, für einen Schüler, eine Schülerin mit zwölf oder dreizehn Jahren etwas Besonderes an sich zu finden, es aufzuschreiben, vielleicht sogar auf Englisch, auf Französisch, das man doch noch kaum konnte, auch mit vierzehn oder fünfzehn war es ein Kampf, bedurfte es der Ausdauer, man schrieb ja noch mit der Hand, mit einem Füller, mit einem von den Eltern geliehenen Kugelschreiber, mit einem schwarzen Filzstift vielleicht. Ich habe eine Haustier, a pet. Und wie einem auffiel, dass das Haustier keinen besonderen Namen hatte, warum hatte man sich nicht etwas Besseres, gut klingendes ausgedacht, als der kleine Vogel, der Hund noch neu war? Und die Freunde, die mussten erwähnt werden, neben ihnen saß man in der Schule, schrieb ihnen Zettel, hatte immer etwas zu sagen, war man doch Bewohner des gleichen Kosmos der Schulbänke und Lehrernamen, des Stadtklatsches, der Nachbarschaften, der geheimen, längst geschlossenen Discotheken, der Kinos mit den blinden Schaukästen. Was aber schrieb man einem Fremden, jemandem in England oder Russland? I like singing but I am shy. Sometimes I am suddenly sad, I don`t know why. Klopfenden Herzens den Brief zukleben. Auf der Post das anerkennende Nicken des Postbeamten: Ein Brief nach La Reunion, das hat man nicht alle Tage, kennen sie jemanden da, wo liegt das denn überhaupt? Ja, da wohnt meine Brieffreundin. Eine Insel, ganz richtig, und es ist immer grün dort.

Eine Brieffreundin, das galt beinahe mehr als eine Schulfreundin, und bald schon würde sie einem auch etwas anvertrauen: My boy-friend left me. Fast zerfetzte man den Umschlag des ersten Briefs vor Aufregung, des Briefs mit der fremden Schrift, das Schreiben aus Schweden, dem das Bild eines blonden Mädchens beilag, das schrieb Tach or ditt langa brev, oder so ähnlich. Doch markierte dieser erste, lang ersehnte, bisweilen Wochen dauernde Antwortbrief auf den eigenen ungelenken Versuch, mit jemand vollkommem Unbekannten Kontakt aufzunehmen, bereits den Beginn der Entzauberung der Brieffreundschaft, den Anfang eines nahenden Endes. Er musste sofort beantwortet werden. Unverzüglich. Sofort das Briefpapier nehmen. So viele Fragen! Nach dem Lieblingsgericht (das des Brieffreunds: Pommes Frittes), dem Schulweg, oder ob man schon einmal verliebt war (der Brieffreund, ein Junge aus Russland, hatte tatsächlich zurück geschrieben, sagte: ja. Oder: Du siehst hübsch aus auf dem Foto. Noch nie hatte ein Junge so etwas gesagt). In Deutschland sei er einmal schon gewesen, er konnte auch ein wenig deutsch (vielleicht könnte er einen besuchen, überlegte man, doch wo würde er übernachten?). Die Wasserfälle im Schwarzwald. Schnitzel sei bekannt. Schon die Antwort auf den zweiten Brief etwas mühsamer: Was dem Mädchen schreiben, das der Boy Friend ins Gesicht schlug? So etwas hatte man noch nie gehört, es klang heftig, aber fern, unvorstellbar. Ich vertraute der Brieffreundin dann auch etwas an, das ich „meine Probleme“ nannte. Der beharrlich fragenden Schwedin antworten. Die junge Frau aus La Reunion fotografierte sich selbst vor einem großen Auto, mit zurückgeworfenem Haar und schickte Bilder von Früchten. Mit Autos konnte ich wenig anfangen. Das Mädchen aus der DDR schrieb, sie lese in der Schule Wie Der Stahl Gehärtet Wurde, sie schrieb alle Anfangsbuchstaben groß und unterstrich sie mit einer anderen Farbe, warum? Von diesem Buch hatte ich noch nie gehört. Zur Jugendweihe schickten wir übergroße, gebrauchte, fleischfarbene Strumpfhosen, meine Mutter behauptete, sonst würden die Nylonstrümpfe vom Zoll konfisziert. Ich konnte mir unter DDR nichts vorstellen, ich erhielt Süßigkeiten zurück, die seltsam schmeckten, klebrig, künstlich süß, ich probierte ein paar und verzog das Gesicht und verstaute den Rest in einem Fach meines Schreibtischs, wo sie monatelang lagen, bis meine Muttter sie entdeckte, das Staniolpapier halb abgezogen, einige noch ganz, und dann waren sie weg. Und dann erschöpfte sich auch unser Austausch. Der geschlagenen Engländerin bekundete ich mein Beileid, sie schrieb, sie habe nun schon zum dritten Mal mit einem Jungen geschlafen, das würde besser, was ich da für Erfahrungen hätte? Ich wurde beim Lesen rot. Mit der Schwedin schrieb ich über ein Jahr, oder sogar zwei, aber dann wurden die Briefe seltener, ihr Leben war so geordnet, so schön, es beruhigte mich zuerst, sie wohnten am Wasser, sie schickte mir ein Bild von sich mit Gummistiefeln, sie hatte einen Hund und ging gerne mit ihm spazieren, die Schule ging so, war ok, sie las nicht so gerne, aber reiten wollte sie lernen, mir gingen die Fragen aus.
Je mehr Brieffreunde, desto mehr Briefe waren zu schreiben, und irgendwann wurde die Pflicht lästig, stapelten sich die bunten Schreiben aus der Welt, die ich noch nicht kannte, in meinem Zimmer, zerstreuten sich, die Geschichten und Brieffreunde verblassten, ab und zu schickten wir uns Postkarten, dann hörte ich nichts mehr. Als die neue Lehrerin sagte, wir könnten Brieffreunde haben, sie könne uns die Adressen besorgen, da ging auch mein Arm in die Höhe, und ich wartete sehnlich auf die viereckigen Seiten mit den Adressen, die ich zwischen meinen Fingern halten, mit Anschriften von Orten, von denen ich immer träumen würde.

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