Böhmen am Meer - zum Tod Václav Havels

Siehst du, da vorne! Da wohnt er!“
 
Als ich vor ein paar Jahren länger in Prag lebte, zeigte mir ein tschechischer Freund das Wohnhaus Václav Havels. Ich ging ein paar Schritte, dann blieb ich stehen und drehte schließlich um. Vielleicht wollte ich nicht enttäuscht feststellen müssen, dass Havel dort, wo man mit dem Finger hingewiesen hatte, nicht wirklich wohnte. Oder ich wollte gar nicht, dass jemand wie Havel an einem konkreten Ort lebt: Für mich war er ein Böhme im Sinne eines Böhmens, das doch am Meer liegen muss.
Wenn Intellektuelle in die Politik gehen, müssen sie ihre Ideen vom Utopienhimmel auf die Erde holen. Havel, der wie kein zweiter den Typus des osteuropäischen Intellektuellen verkörperte, erfolgreich als Bühnenautor, von der kommunistischen Diktatur ins Gefängnis geworfen und degradiert, ging genau zum rechten Zeitpunkt in die Politik: Während des Umbruchs 1989 brachte er seine moralische Glaubwürdigkeit als Präsident des gerade von der Diktatur befreiten Landes ein – Havel auf die Burg“, so hatte während der Samtenen Revolution einer der Slogans der Demonstranten gelautet. Havel, der sich als Dissident eigentlich einer nicht-politischen Politik“ verpflichtet gefühlt hatte, integrierte in die Regierung zunächst gleichermaßen den Reformkommunisten Alexander Dubček (wenngleich auf eher symbolischem Posten) wie den späteren Rivalen und Gegner Václav Klaus. Nach der allersten Aufbruchseuphorie folgten die Mühen der politischen Ebene. Doch Havel blieb konsequent in seinem Eintreten für Menschenrechte, gegen autoritäre Regime und für die europäische Aussöhnung – er war und blieb eine Ausnahmeerscheinung im Übergang von der Ausnahmesituation eines Landes, das nach 1989 nicht nur in zwei Teile zerfiel, sondern auch Mitglied von NATO und EU wurde, hin zur diesmal gewaltlosen und positiven "Normalisierung". Havel, in Prag geboren, war zeit seines Lebens trotz seiner politischen Karriere ein Theatermensch; seine Begeisterung für die Kunst, auch die populäre, und seine Lebensfreude waren ebenso legendär wie seine klugen Reden und Essays. Mitten in der großen Krise verliert Europa einen großen Europäer und „Böhmen“. Václav Havel, 1936 in Prag geboren, starb in der Nacht auf heute in seinem Landhaus in Böhmen.


Böhmen liegt am Meer  (Ingeborg Bachmann)

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.
Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.
Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.
Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.
Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.
Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.
Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich.
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.
Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.
Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe
unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser,
und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen

Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,
wie ich mich irrte und Proben nie bestand,
doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.

Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags
ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.

Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch an alles inner mehr,
ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,
begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.

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